Weder Zeter noch Mordio

Peter Scholl-Latour zum Aufstand in Syrien, Aufruhr in Ägypten und einer »Welt aus den Fugen«

  • Lesedauer: 10 Min.
Ganz oben auf der Bestsellerliste steht das neue Buch von Peter Scholl-Latour, »Die Welt aus den Fugen« (Propyläen, 388 S., geb., 24,99 €), das der Islamexperte in Anlehnung an die »Betrachtungen zur Weltgeschichte« des 1332 in Tunis geborenen und 1406 in Kairo gestorbenen Gelehrten Ibn Khaldun »meine Muqaddima« nennt. Mit dem Publizisten (Jahrgang 1924), der die Kulturen und Religionen der Welt wie kein anderer kennt, sprach Karlen Vesper.

nd: Deutschland will »Patriot«-Raketen an die türkische Grenze zu Syrien schicken. Glauben Sie, dass die syrische Armee einen Übergriff auf die Türkei wagt?
Scholl-Latour: Ich glaube nichts und traue niemandem mehr. Wer weiß denn, wer türkisches Hoheitsgebiet beschießt? Das erste Mal, als es Tote gab, war dies wohl einem Fehler in der Zielberechnung der syrischen Artillerie geschuldet. Es folgte aus Damaskus eine offizielle Entschuldigung. Baschar al-Assad kann nun wirklich kein Interesse daran haben, die türkische Armee herauszufordern, die zehn Mal stärker ist als seine - und auch stärker als die deutsche. Wer weiß, ob nicht Aufständische in die Türkei hinein ballern?

Wird die NATO doch noch eine militärische Intervention gegen Syrien riskieren?
Noch hat man die Schwelle von Artikel 4 des NATO-Paktes, Konsultationen im Falle von Krisen, nicht überschritten. Dass die etwas überstürzten Solidaritätserklärungen mit der Türkei dazu führen, dass Artikel 5 in Kraft tritt, also bewaffneter Angriff, sollte ausgeschlossen sein. Die NATO dürfte nach dem Libyen-Experiment belehrt sein. Auch die Türkei dürfte nicht wirklich interessiert sein, da dann wahrscheinlich ein US-General das Oberkommando übernehmen wird. Das würde Ankara nicht behagen.

Sie fürchten also nicht, dass der Syrien-Konflikt sich zu einem regionalen Krieg ausweitet?
Es ist schon längst ein regionaler Krieg. Die Saudis sind praktisch schon einmarschiert, sie sind die treibende Kraft, leisten den Aufständischen Waffenhilfe, ebenso der Ministaat Katar, der übrigens auch 200 deutsche Leopard-Panzer kauft. Ich weiß allerdings nicht, wie sie die bemannen wollen, sie werden wohl Söldner anheuern müssen. Und die Saudis bedanken sich für die Waffen aus Deutschland mit von ihnen finanzierten Gratis-Exemplaren des Korans.

Gegen Assad kämpfen aber doch nicht nur ausländische Söldner, sondern Syrer, die sich von Assads Diktatur befreien wollen.
Ich bezweifle, dass sie die Mehrheit bilden. In der »Freien Syrischen Armee« kämpfen auch nicht die lieben netten Jungs, die 20 Jahre lang im Ausland lebten, Intellektuelle, die auf Französisch, Deutsch oder Englisch Bücher schreiben. Das sind ebenso nicht mehrheitlich Deserteure der regulären syrischen Armee, sondern Desperados. Und sie wären schon längst von der syrischen Armee und der Alawiten-Miliz niedergerungen, wenn sie nicht von erfahrenen Dschihadisten aus der ganzen arabischen Welt verstärkt worden wären. Vor allem über die anatolische Grenze dringen die meisten nach Syrien ein, Salafisten, die extrem reaktionär, extrem fanatisch und mit Al Qaida verbündet sind.

Wie jene Rebellen, die 2011 die NATO nach Tripolis führten?
Genau. Sie strömen aus Saudi-Arabien, aber auch aus der Cyrenaika, aus Tschetschenien, aus Pakistan nach Syrien. Wie in den 70er/80er Jahren, als die Sowjetunion in Afghanistan Krieg führte und die Islamisten von den Saudis, US-Amerikanern und Pakistanis unterstützt wurden. Einer der damaligen Rekrutierungsagenten hieß übrigens Osama bin Laden.

Sie negieren aber doch nicht die Legitimität des Aufstandes in Syrien gegen Assad?
Ich verharmlose die Diktatur keineswegs. Und ich verstehe ja, dass man im Westen das Gefühl hat, ein Volk in seinem Freiheitskampf unterstützen zu müssen. Doch darum geht es längst nicht mehr.

Sondern?
Es geht darum, die Kette von Iran-freundlichen Staaten von der Grenze Afghanistans bis zum Mittelmeer, wo die Hisbollah sitzt, zu zerschlagen. Aber angesichts des Chaos in Ägypten und der grausamen Stammesfehden im vom Tyrannen Gaddafi befreiten Libyen frage ich mich, wie sich die entrüsteten Prediger von Demokratie und Menschenrechten im Westen die Zukunft Syriens vorstellen. Auch Israel muss sich fragen, was auf Assads Diktatur folgen wird. Trotz aller antizionistischen Propaganda hat er garantiert, dass es an der Demarkationslinie bei Kuneitra an den Golanhöhen ruhig blieb, es zu keiner Eskalation kam.

In Syrien wird ergo ein Stellvertreterkrieg geführt, der sich eigentlich gegen Iran richtet, nicht für Freiheit und Menschenrechte?
Das ist ja die ganze Absurdität, die Heuchelei, wie sie schlimmer nicht sein kann: Der Westen redet von Freiheit, Menschenrechten, Selbstbestimmung, Emanzipation der Frauen und hat als Verbündeten Saudi-Arabien und die Emirate, die der wahhabitischen Religionsrichtung angehören, die von vielen frommen Muslimen als eine Art extremistische Ketzerei angesehen wird - in etwa wie die Evangelikalen in den USA oder die Ultraorthodoxen in Israel.

Ginge es dem Westen wirklich um Freiheit und Demokratie, hätte er auch den Selbstbestimmungsanspruch der schiitischen Bevölkerungsmehrheit in Bahrain unterstützen müssen, statt der sunnitischen Herrscherdynastie El Khalifa beizustehen und saudische Panzer einrollen zu lassen.

Nicht ideologische, sondern geostrategische Interessen sind also die kriegstreibenden Kräfte?
Es geht um geostrategische Interessen, hinzu kommt aber der konfessionelle Faktor. Und zwar vehement. Es geht um die schiitische Brücke, den schiitischen Großraum von Irak, Iran bis Libanon. Die Alawiten gehören zur schiitischen Glaubensgemeinschaft. Und sie sind gezwungen zusammenzuhalten, denn sie werden nach Assads Sturz nicht nur ihre Posten verlieren, sie müssen ein Massaker fürchten. Auch die syrischen Christen stehen eher auf Seiten von Assad, weil sie unter seiner Herrschaft eine im arabischen Raum ungewöhnliche Toleranz genossen.

Als ich jüngst in Nadschaf war, in Irak - wo übrigens ein übler Kriegszustand zwischen Schiiten und Sunniten herrscht -, und dort mit Großayatollahs sprach, sagten sie mir: »Wir wundern uns, dass der Westen die Christen in arabischen Ländern fallenlässt.« Die Hälfte der irakischen Christen, zumeist Katholiken, ist außer Landes geflüchtet. In Syrien erwartet man gleiches. Syrien ist der letzte säkulare Staat in der arabischen Welt, dessen Sturz jetzt vom Westen begünstigt wird. In Libanon wird es dann ebenfalls wieder zu konfessionellen Konflikten kommen. Die libanesischen Christen haben die Demütigungen unter der osmanischen Herrschaft nicht vergessen. Ich habe den Eindruck, Erdogan träumt von einer Wiedergeburt osmanischer Größe, Vormacht über den Mashreq, den ganzen arabischen Raum bis Iran.

Die Gefahr eines Krieges gegen Persien ist also nach wie vor aktuell. Wird aber Washington dieses »Abenteuer« riskieren?
Iran wären die USA nicht gewachsen. Das weiß man in Washington. Deswegen werden Sanktionen verhängt, und nochmal Sanktionen. Die Europäer machen heftig mit, schreien sogar noch lauter. Vor allem die Franzosen scheinen von allen guten Geistern verlassen zu sein. Sie merken gar nicht, dass sie sich ins eigene Fleisch schneiden, wenn die Petroleum-Produktion in Iran verringert wird. Die Iraner werden andere Abnehmer für ihr Erdöl finden, in China und Indien. Unter dem Druck Washingtons beteiligen sich auch große deutsche Unternehmen, Siemens, Bosch, die Deutsche Bank usw. an den Sanktionen und schaden sich selbst.

Wer in Teheran oder anderen Städten in Iran mit den Menschen auf der Straße gesprochen hat, weiß: Sie schimpfen alle auf die Mullahkratie. Aber wenn es zu einer Aggression käme, dann gäbe es einen nationalen Zusammenschluss wie im ersten Golfkrieg, als Saddam Hussein das Land angegriffen hat - übrigens mit Unterstützung der Amerikaner.

Vor einem Jahr hatten Sie eine Audienz bei Baschar al-Assad, was Ihnen Exil-Syrer hierzulande verübeln und in der Tat ein »Beigeschmäckle« hat ...
Er hatte mich eingeladen, obwohl ich nie besonders günstig über das Assad-Regime geschrieben habe, im Gegenteil. Ich war ja auch zugegen, als 1982 in Hama das schreckliche Massaker stattgefunden hat, unter dem Kommando seines Onkels Rifaat al-Assad, dem Bruder seines Vaters, des damaligen Staatschefs Hafez al-Assad. 20 000 Menschen wurden niedergemetzelt. Die Einladung überraschte mich. Ich nahm sie an, weil ich überzeugt bin, dass man mit Gesprächen mehr erreicht als mit Zeter und Mordio. Natürlich hat mir Baschar al-Assad keine Geheimnisse anvertraut. Ich hatte aber den Eindruck, der Mann wäre lieber in London geblieben und hätte als Augenarzt praktiziert, statt unter dem Zwang seines Vaters den verunglückten älteren Bruder Basil zu ersetzen. Aber da kommt er jetzt nicht mehr raus. Auch für ihn gelten die von Ibn Khaldun, dem berühmten islamischen Gelehrten des 14. Jahrhunderts, geschilderten familiären und ethnischen Bande der »Asabiya«. Baschar al-Assad muss seinen weit verzweigten Familienclan schützen und die Glaubensgruppe der Alawiten, die für die Sunniten Ketzer sind und übrigens unter der osmanischen Herrschaft ebenfalls sehr gelitten haben und erst zur Zeit des französischen Völkerbundsmandats die Chance des sozialen Aufstiegs erhielten.

Und deswegen leisten Assad und die Seinen so zähen Widerstand?
Was für Perspektiven hat er denn? Wenn er gestürzt wird, würde er sofort umgebracht werden oder wie Gaddafi zuvor noch misshandelt. Oder er kommt vor das Gericht in Den Haag und stirbt in irgendeiner Zelle wie Milošević.

Welche Lösung wäre die beste zur Beendigung des Syrienkriegs?
Es gibt keine.

Das bedeutet, man kann nur abwarten? Das wäre unmenschlich.
Unmenschlicher wäre eine Intervention. Wir können nur noch zuschauen. Wir Europäer sollten uns nicht einbilden, außerhalb unseres eigentlichen Lebenskreises noch wirklich etwas verändern zu können. Das gilt auch für die USA. Sie sind in Vietnam gescheitert, in Afghanistan, in Irak und sogar in Somalia. Sie schicken jetzt Truppen nach Jordanien, weil es dort auch anfängt zu bröseln. Die USA erliegen allmählich einem over stretch. Sie haben den Krieg gegen die Faschisten in Europa und im Pazifik glorreich gewonnen, eine große logistische Leistung mit der Invasion in der Normandie 1944 bewiesen. Jetzt sind sie noch nicht mal mehr in der Lage, die Piraten an Somalias Küste einzufangen.

Wenn nun aber Assad Chemiewaffen einsetzt?
In einem Krieg, wo es keine klaren Fronten gibt?! Seine Leute und Sympathisanten ebenfalls getroffen werden könnten? Ich fürchte viel mehr, dass diese Waffen in die Hände der Dschihadisten fallen.

Wohin man schaut in Arabien - es gibt kaum Erfreuliches. Wie wird es in Ägypten weitergehen? Die Revolutionäre sehen sich um ihre Revolution betrogen.
Ich hatte von Anfang an keine Illusionen. Mit Facebook macht man eben doch keine Revolution. Dazu bedarf es einer verschwörerischen Solidarität, eines Programms und charismatischer Führer.

Aber es gibt wieder vereinte, machtvolle Proteste in Kairo.
Im Moment findet ein Austarieren der Kräfte statt. Das Militär ist noch nicht abgetreten. Und es hat das plötzliche Ende der Vorherrschaft des traditionell laizistisch eingestellten Militärs in der Türkei vor Augen. Es war schon erstaunlich, wie sich dort Generäle einfach verhaften ließen, die übrigens seit zwei Jahren ohne Urteil einsitzen.

Wie kann der Westen der Opposition in Ägypten helfen?
Wir dürfen uns nicht einmischen. Wenn der Westen Partei für eine Seite ergreift, wird diese den Massen sofort verdächtig. Wenn alles gut geht, wird sich in Kairo eine Figur etablieren, ob aus dem religiösen oder wieder militärischen Lager, die eine gewisse Autorität ausübt und als wohlwollender Regent empfunden wird. Eine parlamentarische Demokratie wie bei uns kann ich mir dort momentan nicht vorstellen. Das betrifft auch China. Unsere Politiker spielen sich als Moralapostel gegenüber Peking auf. Wir beteiligen uns an Sanktionen gegen China. Warum? Ich sage ja nicht, dass wir uns den roten Mandarinen an den Hals werfen sollen. Das Bündnis mit den USA bleibt für Europa und Deutschland unentbehrlich. Man sollte aber auch Peking nicht verprellen.

Zumal es dort einen personellen Wechsel an der Macht gibt.
Die Wahl des neuen Generalsekretärs Xi Jinping zeigt, dass es in der KP Chinas mehr Spannungen gibt, als sich hier manche vorstellen können - mindestens so viel wie im Deutschen Bundestag. In China leben aber 1,3 Milliarden Menschen, nicht nur 80 Millionen. Und auch in China gilt die Erkenntnis von Marx, die Brecht in die Worte transkribierte: »Erst kommt das Fressen, dann die Moral.« Es ist nicht vorstellbar, den deutschen Parlamentarismus auf das »Reich der Mitte« zu übertragen. Die haben andere Dinge zu bewältigen als wir. Und wenn wir schon beim Hauptstadtflughafen scheitern, sollten wir uns mit Ratschlägen an andere zurückhalten.

Aber Menschenrechtsverletzungen müssen angeklagt werden!
Gewiss. Und wir sollten die mutigen Regimegegner vor Repressionen zu schützen versuchen. Ja, die Todesstrafe wird in China willkürlich verhängt. Doch wie steht es damit in den USA? In Chinas Kerkern wird gefoltert. Was geschah in Abu Ghoreib und Guantanamo? Ich halte nichts vom »China-Bashing«. 1969 hat ein Bundeskanzler mit seinem Ausruf »Ich sage nur: China! China! China!« noch Heiterkeit erregt. Mittlerweile ist China unentbehrlicher Handelspartner. War das 19. Jahrhundert das Saeculum Großbritanniens und das 20. das der USA, so wird das 21. von China dominiert.

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