Abschiebestopp verhängen und Asylgründe überdenken

Piratenfraktion informierte sich vor Ort in der Spandauer Erstaufnahmestelle Motardstraße

  • Marina Mai
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Piraten fordern ein Abschiebestopp für Flüchtlinge aus dem früheren Jugoslawien bis zum Ende des Winters. »Das ist besonders wichtig für dort diskriminierten Minderheiten, da sie zum Teil aus besonders menschenunwürdigen Bedingungen geflohen sind. Ich werde meiner Fraktion vorschlagen, dazu einen Antrag ins Parlament einzubringen«, sagt der Piratenabgeordnete Fabio Reinhardt am Rande eines Besuches von Piraten in der Erstaufnahmestelle in der Spandauer Motardstraße.

Vorbild für den Antrag ist eine gleichlautende Initiative aus Thüringen, das ebenfalls von einer großen Koalition regiert wird. Unter Berlins ehemaligem SPD-Innensenator Ehrhart Körting (SPD) ist ein Winter-Abschiebestopp ins frühere Jugoslawien zwar nie öffentlich verkündet worden, war aber viele Jahre Praxis. Der CDU-Innensenator Frank Henkel hat hingegen letzte Woche acht Serben abschieben lassen.

Das umstrittene Heim in der Motardstraße ist das vierte, das die Piratenabgeordneten Fabio Reinhardt und Oliver Höfinghoff gemeinsam mit jungen Basispiraten besuchen. »Wir wollen in der Praxis das kennenlernen, was im Parlament Thema ist«, begründen sie ihre Bildungsreise. Fachwissen, das sich andere Fraktion in mehreren Jahrzehnten aneigneten, müssen die Parlamentsneulinge in einem Crashkurs nachholen. Wie engagiert sie dabei vorgehen, zeigt die eher ungewöhnliche Uhrzeit ihrer Bildungsreise nach Spandau: Freitag von 17 bis 20 Uhr.

»Ich bin elf Jahre alt«, sagt ein kleiner Roma-Junge den Piraten im Kinderspielzimmer auf Deutsch. Er gehört zu den wenigen Kindern der Motardstraße, die zur Schule gehen und das mit großer Begeisterung. Nur eins sei blöd an der Schule, meint er: »Bald sind Ferien.« In seiner Muttersprache fügt er hinzu, dass er in Serbien lediglich ein Jahr zur Schule hatte gehen können. »Danach haben die Leute nicht mehr erlaubt, dass ich in die Schule gehe.« Welche Leute das waren, wisse er nicht. Snezana Hummel von der Arbeiterwohlfahrt, die das Heim betreibt, sagt, dass solche Schulkarrieren unter Roma aus dem früheren Jugoslawien eher die Regel seien als die Ausnahme. Roma erlebten dort eine systematische Ausgrenzung, hätten oft nicht einmal Zugang zu sauberem Trinkwasser. Für Fabio Reinhardt war das Anlass, »auf Bundesebene Asyl mal neu zu definieren. Es kann nicht sein, dass solche Ausgrenzungen kein Asylgrund sind«.

Es riecht nach Gas und alten Socken in den fünf Baracken, die 1988 als Provisorium für Flüchtlinge errichtet wurden und trotz defekten Deckenplatten, Duschen und Toiletten immer noch als Unterkunft herhalten müssen. Der Geruch stammt aber nicht von defekten Gasleitungen sondern aus den Schloten der umliegenden Industriebetriebe. Das Flüchtlingsheim liegt im Gewerbegebiet, weitab von einer Wohninfrastruktur.

»Wir fordern die Schließung des maroden Heimes und mehr Wohnungen für Flüchtlinge«, sagt Fabio Reinhardt. Seine Fraktion sei derzeit auch dabei, Kriterien für die Ausstattung von Sammelunterkünften kritisch zu hinterfragen. »Es müssen beispielsweise klare Regeln her, wie viele Personen sich eine Dusche und eine Waschmaschine teilen müssen«, sagt der Abgeordnete. Und sie wären nicht die Piraten, wenn sie nicht auch Internet und Münzfernsprecher für Asylheime fordern würden. Beides sei wichtig für die sozialen Kontakte. Und beides gibt es in der Motardstraße nicht.

»Es lohnt sich für uns nicht, Geld in Internettechnik zu stecken, wenn das Heim bald abgerissen wird«, wendet Snezana Hummel ein. »Aber wenn die Piraten eine Möglichkeit sehen, uns die Technik zur Verfügung zu stellen, würde uns das freuen.« Die wollen einen Spendenaufruf unter ihrer Mitgliedschaft starten.

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