Quicklebendig
Prokofjew an der Deutschen Oper Berlin
Es spektakelt, wohin der Blick fällt, windet sich, schießt über. Eine Gruppe schwarz Vermummter, Gewehre und MPi in Anschlag, erstürmt die Vorbühne. Grölt. Hält in Schach. Permanentes Gestikulieren. Da, seht! Sie kommen, die Leute der Komödie, der Tragödie, schreiten gegeneinander, aneinander vorbei, vermengen sich. Links wandern in Reihe die Bunten, Lustigen, rechts die Traurigen, Schwarzen. Opernrandale, Kampf der Kategorien in der Oper. Musiktheater, das sich selbst hoch nimmt. Die ehernen Trennungen gelten auf der Bühne nicht. Keine Komödie, kein Drama wird gespielt. Hier waltet die Groteske, die Schaulust, der Witz, die Intrige, die Hörlust schlechthin.
Robert Carsen hat eine rasende Opernrevue aus dem Prokofjew-Stück »Die Liebe zu den drei Orangen« gemacht. Ein Theater des Tempos, der Überraschung, der Narretei, komponiert aus dem Geist Meyerholdscher Divertissements und deftiger Stegreifspielformen der Commedia dell’ arte.
Die Einfälle sprudeln nur so. Weiße Vorhänge schwirren vor dem Auge hinüber und zurück. Die Streifen an den Wänden, kindlich der Bürstenstrich, sind wacklig. Der Königsthron, schwierig zu besteigen, ist nicht mehr als ein Tisch aus Volkes Stube (Bühne Paul Steinberg). Die Krone ein Stück lächerliches Blech, kaputtzutreten von jedermann.
Die Musik gibt gemeinhin das Tempo vor. Hier jedoch wechseln die Bilder und Begebenheiten so rasch, so cineastisch, so plötzlich, dass einem schwindelt in der stetigen Furcht, die Musik stolpere über ihre eigenen Geschwindigkeiten. Steven Sloane dirigierte das glänzend vorbereitete Orchester der Deutschen Oper und die hervorragend studierten Sängerinnen und Sänger geradezu halsbrecherisch. Die Oper hat aus Mangel an Reflexion keine ausgeführten Arien und Chöre. Sie lebt weitgehend von der Groteske, vom Tanz, der Artistik, der Pantomime, begleitet von so einschmeichelnden wie furiosen Musikstückchen und rasanten Märschen, hochfahrenden Intermedien, hohnlachenden vokalen Gesten und ätzenden Melodiewirbelstürmen.
Prokofjew komponierte »Die Liebe zu den drei Orangen« in den USA. Am Ende des Krieges 1918. Sein erster US-amerikanischer Auftrag. Über die Vermittlung Benois’ und Gorkis hatte Volksbildungskommissar Lunatscharski ihm die Reise dorthin ermöglicht. Prokofjew wollte nach langer Arbeit ein bisschen »frische Luft« schöpfen, die »physische Luft der Meere und Ozeane«. Vom Elan und der Bedeutung der Oktoberrevolution hätte er keine klare Vorstellung besessen. Gleichwohl, die Oper, eine Mischung aus Märchen, Krimi und Groteske, scheint irgendwie infiziert von dieser grandiosen sozialen Umwälzung, obwohl ihre Musik weniger radikal ist als die seiner »Skytischen Suite«. Sie rechnet mit den Lausigkeiten der Aristokratie ab, heiter, ohne Lynchjustiz. Mit dem faden König, seinen kuriosen Vasallen, den ihn umgarnenden Masken, Ulkfiguren, bösen Gegenspielern, auch mit der Dreh- und Angelfigur, dem Prinzen, der, was sein Umfeld auch anstellt, nicht zum Lachen zu bringen ist.
Die Oper zeigt dieser bunten, schrägen Sippschaft, die eben untergeht, die Nase. Und zwar so, als würde sie selber in einem Karussell postiert sein, das in jäh wechselnden Tempi und Rhythmen rotiert. Grandios umgesetzt der mehrfach einbrechende berühmte Geschwindmarsch mit seinen jauchzenden, überschäumenden Melodiebögen.
Im Figurenmix herrschen Gegensätze im Begehren um die Erbschaft des Königs, dieses ungelenken, biederen Waschlappens, der auch so singt (Albert Pesendorfer). Drei Handlungsstränge greifen ineinander. Einmal die Märchenfiguren (Prinz, sein Adlatus Truffaldino). Hernach die Gestalten der Unterwelt (Tschelio, Fata Morgana). Schließlich die das Geschehen kommentierenden Sonderlinge. Ewig gelangweilt der eckige, ganz unelegante, hypochondrische Prinz (Thomas Blondelle). Der lässt wie scharrende Krähfüße in dem Augenblick Lachsalven ab, als er die als hässliche Alte verkleidete und mit Unheil bepackte Fata Morgana (Heidi Melton) sieht. Sie, die Königsuntreue, im Bund mit der Prinzessin Clarisse und dem Kriminellen Léandre, will den Prinzen, trachtet nach dem Erbe des Königs.
Am Ende steigt aus der elektropapphausähnlichen Hülle der dritten Orange die Liebe des Prinzen. Das Mädchen wird von den Mächten der Unterwelt in eine Ratte verwandelt, die krabbelt auch über die Bretter. Der Bann löst sich freilich. Aus dem Rattenfell entsteigt die liebste, herzallerliebst singende Ninnetta (Heidi Stober). Und alle singen, rufen, schreien zuguterletzt: »Es lebe das Theater!«
Nächste Vorstellung: 21.12.
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