In einem anderen Land
Der Leipziger Sexualwissenschaftler Kurt Starke über Partnerschaften in Ost und West - und das Ende des FKK
nd: Die Bundesregierung will Eltern bald Betreuungsgeld zahlen, wenn sie ihre Kinder nicht zur Kita bringen. Sie haben zum Familienleben in der DDR geforscht. Für wie grotesk halten Sie die Entscheidung?
Starke: Viele Dinge, die Familie und Partnerschaft betreffen, sind vom Jetzt bestimmt. Trotzdem wirken die Verhältnisse in der DDR nach und lassen manches als lächerlich empfinden. In Leipzig, wo es einst ein flächendeckendes System von Kindergärten gab, werden händeringend Betreuungsplätze gesucht. Wer damit groß geworden ist, dass Kinder in Kitas gehen, staunt, dass dieses reiche Land nicht binnen kurzem ein Netz für die Kinderbetreuung aufbauen kann. Man hätte vieles lernen können, verzichtete aber darauf. Am Zentralinstitut für Jugendforschung haben wir in den 70er Jahren das Thema »Studieren mit Kind« untersucht. Damals heirateten 50 Prozent der Studenten während des Studiums, und 40 Prozent versorgten eigene Kinder. Das geriet in Vergessenheit. Nun redet man über demografischen Wandel und bemerkt als Problem, dass Frauen studieren, statt Kinder zu bekommen. Sofort entdeckt man einen Ost-West-Unterschied. Akademisch gebildete Frauen im Osten, die jetzt 60 Jahre alt sind, haben zu 95 Prozent Kinder, oft zwei. Frauen dieser Generation im Westen sind zu über 50 Prozent kinderlos.
Wie ähnlich waren sich die Ost- und Westdeutschen in Sachen Liebe, Sex und Partnerschaft?
Als wir 1990 die erste vergleichende Untersuchung unter 16- und 17-Jährigen anstellten, erhielten wir bei zwei Drittel der Fragen kongruente Antworten. Bei einem Drittel der Indikatoren aber gab es Differenzen. In wenigen Jahrzehnten hatten sich bemerkenswerte Unterschiede entwickelt. Ein Beispiel ist die Einstellung zum eigenen Geschlecht. Die DDR-Frau hatte in der Gesellschaft aufgrund von Bildung, Berufstätigkeit und früher Mutterschaft eine andere Stellung, was sich auf ihr Selbstbewusstsein auswirkte. Ostfrauen sahen - und sehen noch immer - weniger die Gräben zwischen den Geschlechtern als die Brücken. Die Frage: ›Haben Sie schon einmal einen Nachteil oder Vorteil gehabt, weil Sie eine Frau sind?‹ beantworten weit mehr Frauen im Westen mit Ja. Vieles, was ihnen im Leben passiert, interpretieren sie geschlechtsspezifisch. Frauen im Osten verknüpfen das eher mit ihrer Gesamtpersönlichkeit. Sie sind noch heute weniger empfänglich für westlich-feministisches Denken. Und sie irritieren Westdeutsche, weil sie deren Frauenbild nicht entsprechen.
Die Unterschiede gingen bis in den sexuellen Bereich. Warum?
Sexualität ist immer kontextabhängig. In der DDR gingen Jugendliche sehr früh Partnerbeziehungen ein. Es kam rasch zu sexuellen Kontakten, viel rascher als im Westen. Wenn ein Mädchen in der DDR sagte: Den mag ich, dann ging sie bald mit ihm ins Bett. Das wirkte bis in intimste Details. Auf die Frage, wodurch ihr erster Orgasmus ausgelöst wurde, sagten im Osten 55 Prozent: durch Geschlechtsverkehr. Im Westen waren es 25 Prozent. Dagegen erreichten 29 Prozent im Westen den ersten Höhepunkt durch Selbstbefriedigung; im Osten waren es 17 Prozent. Sogar bei der Orgasmusrate gab es Unterschiede...
… was die BILD-Zeitung 1990 titeln ließ: »DDR-Frauen kriegen öfter einen Orgasmus«. Das Andere faszinierte und beunruhigte.
Die häufigste Frage, die mir seither gestellt wurde, lautete: Wie hat sich das Sexualverhalten der Ostdeutschen verändert? Hat sich eine »Wende im Bett« vollzogen?
Und? Hat sie?
Es bleiben bemerkenswerte Unterschiede, etwa mit Bezug auf die Ehe. In der DDR wurde häufiger und früher geheiratet als im Westen. Aber bis auf den heutigen Tag ist die Bedeutung vor allem für das Leben der Frauen völlig anders. In den alten Bundesländern besteht nicht nur auf dem Land das Modell fort, dass die Frau nach der Hochzeit zu Hause bleibt und sich um die Kinder kümmert. Die Quote nicht ehelich geborener Kinder stieg bei aller Vielfalt der Familienformen nur von fünf auf 20 Prozent, im Osten liegt sie teils bei 50 Prozent. Eine Kollegin spricht von der »reproduktiven Autonomie« der Ostfrauen. Das Bild der Vereinbarkeit von Beruf und Elternschaft wurde und wird an jüngere Ostdeutsche weitergegeben.
Woher kam die Autonomie?
Im Westen ist die Skepsis, dass sich Arbeit und Kind unter einen Hut bringen lassen, groß. Im Osten war sie geringer. Da konnte und sollte jeder einen Beruf lernen, wenngleich oft nicht den gewünschten. Danach bekam er eine Arbeit. Das sorgte für Zukunftssicherheit. Viele Ostdeutsche sind nicht angstsozialisiert. Das klingt provozierend, weil das ideologische Konstrukt anderes besagt: Der DDR-Bürger hatte in Angst zu leben, vor allem vor Staat und Stasi. Der Alltag der Familien sah anders aus. Ein Kind zu bekommen, war vielleicht unbequem, hatte aber nichts mit Angst zu tun. Wenn Jugendliche schwanger wurden, dann haben sie im Osten noch lange nach 1990 seltener abgetrieben. Das ändert sich inzwischen. Kinder scheinen oft nicht mehr in den Lebenslauf zu passen und werden als Unsicherheitsfaktor betrachtet.
Welche Unterschiede bleiben?
Vieles hat sich angeglichen. Die heute 35-Jährigen sind sich in Ost und West viel ähnlicher als die 65-Jährigen. Ein Leben mit Kindern ist kürzer und seltener geworden - hier wie da. Im Osten leben viele Ältere noch in ihrer ersten Beziehung, bei den Jüngeren sind es in Ost wie West kaum mehr als fünf Prozent. Aus der einen Liebe fürs Leben ist ein Lieben in Folge geworden, auch wenn ›ewige Liebe‹ das Ideal bleibt. Selbst die Zahlen zur Selbstbefriedigung haben sich angeglichen. Andere Entwicklungen sind sozial bedingt und haben nichts mit der Herkunft in Ost oder West zu tun. Wenn ein Mann mit 50 die Arbeit verliert, dann widmet er sich eben nicht den ganzen Tag der Liebe und der Lust, obwohl er dafür die Zeit hätte; vielmehr leidet seine Sexualität unter dem Frust erheblich. Da ist es kein Unterschied, ob er in Görlitz oder Gelsenkirchen lebt.
Was ist aus den selbstbewussten Ostfrauen geworden?
Eine andere Sicht auf die Geschlechterverhältnisse wirkt im Osten nach. Diese Frauen empfinden den Mann noch immer nicht als grundsätzlich Anderen, als einen Feind, sondern eher als Gleichen. Das hat Folgen für die Sexualität, die dadurch friedlicher ist - was manche meiner Kollegen skeptisch sehen, weil sie sagen: Etwas Aggressivität braucht es im Bett. Ich beobachte, dass im Osten die westliche Lustlosigkeit nicht so verbreitet ist, aber auch nicht die Vielfalt der Sexualitäten. Um Metrosexualität, Polyamorie oder ein buntes Singledasein auszuleben, brauchen es materielle Möglichkeiten und eine Vielfalt an Lebensräumen, die es im Osten seltener gibt.
Werden derlei Besonderheiten an jüngere Generationen weitergegeben, und wenn ja: Wie?
Weil sie früh Kinder bekamen, sind Ostdeutsche oft junge Großeltern, die sich mit Vitalität den Enkeln widmen. Zudem lassen sich Frauen, die selbstbewusst und eigenständig sind, von ihrem Mann nicht so schnell durch eine Jüngere ersetzen. Im Westen kommt es viel häufiger vor, dass sich Männer eine jüngere Frau suchen, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Das gibt es im Osten seltener, vielleicht auch, weil die jungen Frauen zum guten Teil abgewandert sind (lacht). Bei unseren Untersuchungen finden wir in vielen Alltagsgewohnheiten signifikante Ost-West-Unterschiede. Getrennt in den Urlaub zu fahren, ist ein Westmodell, ihn gemeinsam und mit den Kindern zu verbringen, ist typisch ostdeutsch. Durch die Berufstätigkeit beider Partner verschärfte sich der Wertekonflikt in der Frage, wie viel Zeit für die Familie verwendet wird und wie viel für die Arbeit. Heute saugt die Arbeit den Menschen oft aus, macht ihn innerlich leer. Er wird müde und lustlos. Wer die Arbeit als Lebensinhalt sieht, der wichtig für die Selbstidentifikation ist, hat auch in der Familie Spaß. Aber es blieb doch stets ein Konflikt. Wenn man Zeit für die Familie hat, verbringt man sie daher zusammen.
... und zwar nackt am FKK.
Die Einstellung zum eigenen Körper war traditionell im Osten eine andere. Das hatte auch mit materiellen Fragen zu tun. Wenn man in einer Gesellschaft groß wird, in der man seine Haut nicht zu Markte tragen kann, weil es einen solchen nicht gibt, fühlt man sich körperlich anders.
Heute sind FKK-Strände deutlich schlechter besucht.
Die Frauen im Osten merkten schnell, dass Westmänner mit einem anderen Blick am FKK entlang liefen. In einer pornografischen Gesellschaft ist man nicht gern nackt. Heute sieht man auch hier in der Sauna Menschen, die sich nicht ausziehen. Ganz nackt zu sein, ist schwierig geworden, nicht zuletzt wegen der Intimrasur, die zum kulturellen Diktat wurde. Solcherart entblößt aber will man nicht an den FKK gehen. Erst jetzt merkt man, dass man dort nicht wirklich nackt war, sondern etwas trug: das Haarkleid. Für junge Leute heute ist FKK zunehmend eine fremde Welt.
Dabei sind Nacktheit und Sexualität omnipräsent.
Beides hängt zusammen. Das Sexuelle ist heute allgegenwärtig; das Intime wird in allen Details an die Öffentlichkeit gezerrt. Jeder kann sich darüber voyeuristisch amüsieren. Irgendwann beginnt man sich zu schützen, körperlich und seelisch. Wir beobachten, dass junge Leute in Ost und West ihre ersten sexuellen Kontakte in der Mehrzahl in festen Beziehung erleben. Es gibt bei den Jugendlichen eine Gegenbewegung zur allgemeinen Verwahrlosung der Sitten in Öffentlichkeit und Medien. Ihr Begriff von Sexualität ist grundsätzlich positiv. Sie setzen dem, was in der Öffentlichkeit passiert, eigene Ideale entgegen.
Wie sehen sie heute die Partnerschaft zwischen Ost und West?
Es gibt viel Gemeinsames, und es gibt andauernde Unterschiede. Eigenheiten können ja aber ein Gewinn sein, wenn man den anderen anerkennt, toleriert, achtet - auch wenn er in manchen Dingen etwas komisch ist. Vielleicht können andere davon profitieren, dass wir Deutschen diese Übung schon begonnen haben. Wir reden ja gerade viel über die Frage, ob es ein gemeinsames Europa gibt. Da wird erregt debattiert, auch über Verhaltensweisen auf sexuellem Gebiet: Verhütung, Homosexualität, Schwangerschaftsabbruch, Beschneidung. Dahinter lauert die Angst, dass ein vereintes Europa Dinge nicht mehr toleriert, die zum eigenen Lebensstil gehören. Menschen müssen lernen, was sie akzeptieren können und was nicht, was sie anderen zugestehen oder an Erfahrungen mitteilen können, ohne sich aufzudrängen. Es wäre gut, wenn wir uns in Europa weniger als Fremde sähen denn als Menschen, die lieben und die man lieben kann.
Interview: Hendrik Lasch
Die Liebe ist so unproblematisch wie ein Fahrzeug. Problematisch sind nur die Lenker, die Fahrgäste und die Straße.
Franz Kafka
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