Wo blieb die Erlösung?

Fundsache: ein Weihnachts-Text von Rosa Luxemburg aus dem Jahre 1905

Unter der Überschrift »Des Erlösers Geburt« erschien auf Seite 1 des »Vorwärts«, des Organs der SPD, am 24. Dezember 1905 ein Leitartikel, der erst jetzt zweifelsfrei Rosa Luxemburg zugeordnet werden kann. Auf diesen Beitrag war Biografin Annelies Laschitza bei Recherchen für einen Ergänzungsband zu den »Gesammelten Werken« Rosa Luxemburgs gestoßen. Wie die Berliner Geschichtsprofessorin gegenüber »nd« sagte, ergebe sich die Autorschaft durch Vergleich mit Luxemburgs in polnischer Sprache unter dem Pseudonym Józef Chmura geschriebenen Broschüre »Kosciol al Socjalizm« (»Kirche und Sozialismus«) sowie mit zwei bisher unveröffentlichten Artikeln der Luxemburg von 1902 in der »Leipziger Volkszeitung«. »nd« druckt hier exklusiv einen Auszug aus dem Artikel:

Mehr als neunzehn Jahrhunderte sind verflossen, seit die gläubige Menschheit die Geburt des Zimmermannssohnes aus Nazareth feiert, der dem Menschengeschlechte als Erlöser verkündet ward. In einer furchtbaren Zeit der Zersetzung des alten Römerreiches, da Millionen in ausweglosem Elend, in Sklaverei und Erniedrigung versanken, in dieser düsteren sozialen Nacht ging die Morgenröte der christlichen Erlösung auf, von den Elenden und Enterbten mit frommem Glauben und jauchzender Hoffnung begrüßt. Und heute wieder, wie seit bald zweitausend Jahren werden die Glocken von unzähligen Kirchtürmen in unzähligen Städten und Dörfern mit eherner Zunge die Wiederkehr jenes freudigen Tages preisen, in hohen Palästen und niedrigen Hütten werden Tannenbäume im Kerzenlicht und Flitterschmuck erglänzen zur freudigen Feier der Geburt des Erlösers.

Doch wo ist die Erlösung geblieben? Darben nicht heute Millionen in täglicher Pein, wie vor Jahrtausenden? ...


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