Thälmanns illegales Quartier
Am Zemminsee sollte der KPD-Vorsitzende nach seiner Befreiung ausharren - doch der Fluchtplan scheiterte
Am Nord- oder Südufer des Zemminsees soll ein illegales Quartier für Thälmann geplant gewesen sein, erfuhr ich durch eine Nachfrage des Historikers Wolfgang Müller. Ich begann zu recherchieren. In der 1979 von der SED herausgegebenen Thälmann-Biografie heißt es, dass als zweite Etappe der im Herbst 1934 geplanten Flucht Ernst Thälmanns aus dem Moabiter Gefängnis sein kurzzeitiger Aufenthalt in einem Landhaus am Zemminsee bei Groß Köris/Schwerin vorgesehen war. Im 2010 veröffentlichten »Thälmann-Report« von Eberhard Czichon und Heinz Marohn ist zu lesen, dass der Nachrichtendienst der KPD die Stenotypistinnen Luise Sattler, Trude Schimitat und Trude Werner im März 1935 mit einem Pkw in ein illegales Quartier der KPD nach Schwerin brachte, wo sie bis zum nächsten Morgen die illegal beschaffte Anklageschrift der Nazis gegen Thälmann abschrieben - 142 Seiten mit 113 Seiten Anhang.
In dem 1993 von Bernd Kaufmann herausgebrachten Buch »Der Nachrichtenapparat der KPD 1919-1937« und in Siegfried Grundmanns Publikation »Der Geheimapparat der KPD im Visier der Gestapo« von 2008 sind weitere Informationen nachzulesen, obwohl noch nicht alle Details aufgeklärt werden konnten.
Was mich als Chronisten im Schenkenländchen interessierte, waren die Akteure, die das illegale Quartier am Zemminsee vorbereiteten und der konkrete Ort, den sie ausersehen und genutzt hatten. Im Bundesarchiv fand ich die protokollierten Aussagen von zwei unmittelbar Beteiligten: Paul Scholz (1882-1976) und Ernst Scholz (1913-1986), Vater und Sohn. Sie waren Mitglieder einer größeren Gruppe von KPD-Genossen, die in die geplante Befreiung Ernst Thälmanns (1886-1944) einbezogen waren.
Ein Bauingenieur stellte das Fluchtauto
Zu Paul Scholz kamen mir Kenntnisse zu Hilfe, die ich vor einigen Jahren bei Recherchen zum 1942 erfolgten Grundstückskauf Libertas Schulze-Boysens in Teupitz erlangte. Als Vermittler dieses Kaufs trat der Bauingenieur Paul Scholz hervor, der in Berlin wohnte, in Rankenheim ein Sommergrundstück besaß und als Siedlungsfachmann unter anderem bei der Märkischen Wochenendgesellschaft mbH beschäftigt war, die sich zum Beispiel mit dem Verkauf des Schlosses und der Ländereien des 1927 aufgelösten Teupitzer Rittergutes befasste. Paul Scholz stellte das Fluchtauto und seine Berliner Wohnung in der Stresemannstraße 52 als Zwischenquartier für die geplante Flucht Thälmanns zur Verfügung und bereitete mit seinem Sohn das Quartier am Zemminsee vor.
Die Gestapo kam diesen Aktivitäten 1934/35 nicht auf die Spur, so dass Paul Scholz in der »Roten Kapelle« um Harro Schulze Boysen und Arvid Harnack seinen antifaschistischen Widerstand fortsetzen konnte. Im September 1942 wurde er aber verhaftet und im Januar 1943 zu drei Jahren Zuchthaus mit anschließender Verwahrung verurteilt. Zur Last gelegt wurde ihm beispielsweise, sein Grundstück in Rankenheim für einen illegalen Sender bereitgestellt zu haben.
Zunächst kam Scholz ins KZ Börgermoor/Emsland und später in das Außenlager des Zuchthauses Luckau in Walddrehna. Dort wurde er durch sowjetische Truppen befreit. Da seine Berliner Wohnung während des Krieges den Bomben zum Opfer fiel, war seine Frau in das kleine, halbfertige Sommerhäuschen nach Rankenheim gezogen. Später nutzte Paul Scholz das Grundstück an den Wochenenden. Er war befreundet mit dem in Teupitz nach dem 8. Mai 1945 eingesetzten Bürgermeister Hans Sußmann, der ebenfalls der Gruppe um Harro Schulze-Boysen angehört hatte. Paul Scholz wohnte in der Karl-Marx-Allee und starb als geachteter Widerstandskämpfer und Rentner 1976 in der DDR.
Sein Sohn Ernst Scholz war 1933 als Bauhausstudent zum Studium an die Pariser Spezialschule für Architektur ausgereist, nachdem die Nazis den Bauhausleiter Mies van der Rohe gezwungen hatten, sein Institut aufzugeben und Studenten kurzzeitig von der SA inhaftiert worden waren. Mit Harro Schulze-Boysen war Ernst Scholz durch gemeinsame Jugenderlebnisse verbunden.
Aus Paris kehrte der 21-Jährige 1934 im Auftrag der KPD zur illegalen Arbeit nach Deutschland zurück. Günstig dafür war, dass er noch immer einen deutschen Pass besaß und in Berlin legal als freischaffender Architekt arbeiten konnte. Im Herbst 1934 wurde er in die Gruppe aufgenommen, die den Parteiauftrag hatte, Thälmann aus dem Gefängnis in Moabit zu befreien.
Nach dem Misslingen dieses Plans war Ernst Scholz an der Beschaffung der Anklageschrift gegen Thälmann beteiligt. 1937 musste er emigrieren, kämpfte 1938/39 in den Internationalen Brigaden in Spanien und 1940 bis 1945 in der französischen Résistance. 1945 kehrte er nach Deutschland zurück und wurde 1946 SED-Mitglied. Für die DDR war er als Minister für Bauwesen, als Erster Stellvertreter des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten sowie als Botschafter in Ägypten und Frankreich aktiv.
Eine Zimmer ohne Fenster als Versteck
Der Plan zu Thälmanns Befreiung sah vor, den KPD-Vorsitzenden mit Hilfe des Wachmannes, eines Sozialdemokraten, nachts aus seiner Zelle zu führen und aus dem Gefängnis zu schleusen. In einem Pkw mit gefälschtem Kennzeichen sollte Thälmann, als Frau verkleidet, unter bewaffnetem Geleit in die Wohnung der Eltern von Ernst Scholz in der Stresemannstraße gebracht werden. Dafür waren etwa zehn bis fünfzehn Minuten Fahrzeit einkalkuliert. In dieser Wohnung gab es einen Hängeboden, der so hergerichtet war, dass Thälmann einige Tage hätte bleiben können. Nach Ablauf von zwei bis drei Tagen sollte durch aktuelle Fotos in der Presse die Ankunft Thälmanns in Prag glaubhaft simuliert werden, um die Gestapo auf eine falsche Spur zu lenken.
Als nächstes Etappenziel war ein Quartier in einem Landhaus am Zemminsee vorgesehen. Das Haus wurde zu dieser Zeit von der Familie Scholz versorgt, da die Eigentümerin, eine Jugendfreundin von Frau Scholz, »Tante Else« gerufen, im Riesengebirge unweit der Schneekoppe mit ihrer Schwester ein Hotel betrieb. In dem Landhaus gab es ein Zimmer ohne Fenster, nur mit Oberlicht, von außen nicht einsehbar. Dieses Zimmer sollte Thälmann vorübergehend bewohnen, bis er nach Abklingen der Fahndung unbemerkt in die Tschechoslowakei hätte gebracht werden können.
Der ausgereifte Fluchtplan scheiterte wegen einer nichtigen Sache, schrieb Franz Dahlem in seinem Buch »Am Vorabend des zweiten Weltkrieges« (1977). Der Wachmann Thälmanns hatte kurz vorher das Schloss der Zellentür noch einmal frisch geölt, um es in der Fluchtnacht geräuschlos öffnen zu können. Ein herablaufender Öltropfen war einem SS-Mann aufgefallen, was die Gestapo ohne weitere Anhaltspunkte veranlasste, Thälmann in einen anderen Gefängnistrakt zu verlegen.
Anklageschrift in einer Nacht abgetippt
Den Fluchtplan und seine Akteure konnte die Gestapo jedoch nicht aufdecken, so dass die Leute ein halbes Jahr später, Ende März 1935, in die Beschaffung der Anklageschrift einbezogen werden konnten. Von den zugelassenen Verteidigern Thälmanns wurde die als »Geheime Reichssache« eingestufte Anklageschrift durch den KPD-Nachrichtendienst für eine Nacht beschafft, ohne dass die Gestapo dahinter kam. Schreibtechnik wurde in das Haus am Zemminsee gebracht und am Abend die drei Schreibkräfte. Am Morgen lag die umfangreiche Anklageschrift wieder auf ihrem Platz im versiegelten Panzerschrank der Anwälte, während die Abschrift auf Kleinbildfilm kopiert werden konnte. Ernst Scholz übergab den Film in einem gutbürgerlichen Görlitzer Gasthaus einem Kurier. Wenige Tage darauf erhielt er die Bestätigung, dass die Sendung in Prag gut angekommen war.
Die Analyse der Schrift diente der von Moskau und Paris operierenden KPD-Führung und dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale zur Verteidigung Thälmanns und zur Mobilisierung der Weltöffentlichkeit. Das wurde ein Grund, warum es die Nazis nicht wagten, den geplanten Prozess gegen Thälmann durchzuführen. Sie fürchteten eine Niederlage wie im Reichstagsbrand-Prozess gegen Georgi Dimitroff.
Nach langer Haft wurde Thälmann am 18. August 1944 im KZ Buchenwald heimtückisch ermordet. Dass in Rankenheim und Schwerin bis jetzt niemand von dem illegalen Quartier wusste, obwohl Paul und Ernst Scholz hier in der DDR jahrzehntelang Wochenendhäuser nutzten und bei den Einheimischen hoch angesehen waren, ist ihrer Verschwiegenheit und Bescheidenheit geschuldet.
Spurensuche im märkischen Schwerin
Die ersten Spuren fand ich mit Hilfe von Klaus Zilm und Lutz Alder im einstigen Rankenheimer Sommersitz von Paul Scholz. Gespräche mit Alteingesessenen aus Schwerin, Rita Gehrke, Ruth Mauermann und Gertrud Schuritz, Auskünfte von Antje Gusovius vom Teupitzer Bauamt und Oliver Haberland vom Katasteramt in Lübben erbrachten verschiedene Hypothesen, eine Konsultation mit dem versierten Schweriner Ortschronisten Werner Exler die endgültige Gewissheit: Es handelte sich um ein Haus auf der Schweriner »Halbinsel«, heute an der Ringstraße, das nach damaligen Bebauungsplänen und Adressbüchern Else Kastellan gehörte. Sie wurde bis zu ihrem Tod in den 1950er Jahren von ihren Freunden und Nachbarn »Tante Else« gerufen und war als professionelle Reisebegleiterin und enge Freundin der Familie von Paul Scholz bekannt. Ihr erstes Haus in Schwerin war zweifelsfrei das gesuchte Quartier.
Seit Jahrzehnten wird das Haus privat genutzt und es wurde vielfach umgebaut, weshalb nach Auswertung der Recherchen mit den Eigentümern auf deren Wunsch die Hausnummer hier nicht genannt und auf ein Foto verzichtet wird.
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