Das Ideal der Freiheit
Die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum zeigt »Kunst in Europa seit 1945«
Adam Smith, Vordenker des Mehrwerts und Theoretiker der Kapitalakkumulation, steht kopflos aber weltbürgernobel gekleidet in gealterter Gestalt vor seinem Bücherschrank. Die Folianten in feinem Leder samt Goldprägungen, mögen sie auch die Grundlagen des heutigen Liberalismus enthalten, sind für den gebeugten Greis kaum mehr zu fassen. »The Age of Enlightment« - das Zeitalter der Aufklärung - heißt die Installation von Yinka Shonibare in der Ausstellung »Verführung Freiheit. Kunst in Europa seit 1945«, veranstaltet vom Europarat im Deutschen Historischen Museum.
Jannis Kounellis hat »Freiheit oder Tod« - die Revolutionsformel aus der zweiten Phase der Französischen Revolution auf eine Stahlplatte geschrieben, dazu die Namen Marat und Robespierre. Diese einem Epitaph ähnliche Installation für die Revolutionäre wird mal so, mal so interpretiert. Aber der griechische Künstler hat mit Kreide die Worte hingekritzelt, eine Kerze aufgestellt, als wollte er etwas subversiv an die beiden Jakobiner erinnern, die - Marat gemeuchelt, Robespierre hingerichtet - als Helden des Scheiterns einer utopistischen Politik samt apodiktischer Moral polemisch interpretiert wurden?
Die beiden Kunstwerke stehen im »Gerichtshof der Aufklärung«, dem ersten Saal der großen Bilderschau. Und hier flimmert es auch: »Je vous salue Marat«. Es ist Ian Hamilton Finlays Neonschriftzug in den Farben der Trikolore - rot für Marat. Man ahnt schon: Die Ausstellung ist ein schwerer Brocken. Die Begleittexte zu den Werken tragen auch nicht zu leichterer Verdaulichkeit bei.
In zwölf Themenräumen im Untergeschoss des Pei-Baus werden Werke von 113 Künstler aus 28 Ländern gezeigt. Die Museumsdirektorin und Kuratorin Monika Flacke führt Kunstwerke zusammen zu einem »ideengeschichtlichen« Rundumblick zu »Grundfragen unserer Existenz«. Die Chance des Einzelnen, der ja zunächst unbescholten in die Geschichte hineingeboren wird, sich seinen Weg in der Auseinandersetzung mit Lebensumständen und Werten zu bahnen, wird hier hinterfragt. Die Kunstwerke sind in offenen Kabinetten mit mannigfaltigen Blickachsen arrangiert: ein opulentes Guck- und Denkangebot. Man darf einmal mehr neugierig sein auf die (Welt)bilder von René Magritte, Joseph Beuys, Alberto Giacometti, Eric Bulatov, Antonio Tapies, Carlfriedrich Clauss, auf Malerei, Installationen, Objekte und Fotografie.
Man wird die Irritation erleben können, die vom Gemälde »Der Architekt« ausgeht, in dem Luc Tuymans einen gesichtslosen Allerweltsskiläufer mitten in eine lautlose Bergwelt platziert - wer ahnt schon, dass dieser Mann Albert Speer ist, der Hitler-Vertraute und NS-Großbaumeister.
Welche Wahrheit können also Bilder transportieren, wie kann man ihnen vertrauen? Vermögen sie im Sinne Brechts einzugreifen in gesellschaftliche Verhältnisse, zumindest diese sichtbar zu machen? Wer an dieser Möglichkeit zweifelt, findet Zuflucht im Iglu von Mario Merz, in den hinein man sich verkriechen könnte, ganz umgeben von Wärme und Weiß.
Dem Nomadenwissen vertrauen, neu anfangen? So unbefleckt, wie das Brautkleid, das Edi Hila als verheißungsvolles Fähnchen des Glücks in ein altersmüdes albanisches Dorf hängt?
Oder - fast am Anfang des als Kreis(lauf) des Wie-auch-immer-Aufbegehrens arrangierten »Bildatlas'« - das Gemälde des Polen Wojciech Fangor »Figuren« von 1950: Arbeiter und Arbeiterin via Pop-Schick mit gelber Sonnenbrille und Handtäschchen. Das eine und das andere wahr wie unwahr - zwei gemalte Projektionen, die dem Betrachter die Wahl lassen.
Und so geht es weiter über Beuys' »Die Revolution sind wir« zu Boltanskis vergrößerten Porträtaufnahmen von jüdischen Kindern, die den Holocaust nicht überlebt haben, im Saal »Rekonstruktion der Geschichte«, wo man auch Anselm Kiefer findet, der seine Bildprotagonisten den Hitlergruß ausführen lässt. Erinnerung als Bilderwettstreit.
Der glanzvolle, vielfach verflochtene und ebenso von der Zeit auch abgetretene, arg beschmutzte, dann wieder hin- und hergewendete Ideenteppich der Aufklärung gilt als gemeinsame Grundlage der abendländischen Kultur. Weniger nationalstaatliche Differenzen oder Ideologien aus der Zeit des Kalten Krieges, keine Ost-West-Konstellation sollen mit der Ausstellung »Verführung Freiheit« visualisiert werden - wobei das Weglassen vielleicht gerade einen ideologischen Subtext ermöglicht. Thema der Schau ist eben jenes selbstbewusste bürgerliche Ideal der individuellen Freiheit, wie es seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts im Zentrum europäischen Denkens stand, verbunden mit der 1948 von der UN verabschiedeten »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte«.
Die Fragilität der individuellen Freiheit (dem Bundespräsidenten mag es das Herz erwärmen) gerade auch im Nachkriegseuropa und vor allem in Krisenzeiten ist Gegenstand der hier versammelten Kunst. Es ist die 30. Ausstellung des Europarates, und man kann sie als Spiegel zur Selbstbetrachtung anlässlich der Nobelpreisverleihung an Europa werten.
Der Kunsthistoriker und Bildstratege Horst Bredekamp hat die Ausstellung vorgedacht - im Vertrauen aufs Visuelle. Dabei hätte es Besucher sicher interessiert, wie facettenreich - von Adornos 1944 geschriebener »Dialektik der Aufklärung« über Blochs »Prinzip Hoffnung«, 1959, bis zu Habermas - ein linker Nachkriegsdiskurs zum Erbe der Aufklärung geführt wurde. Allein die Auseinandersetzung mit Reinhart Kosellecks Dissertation »Kritik und Krise« von 1954 wurde als Inspiration für das Projekt benannt. (Hatten im Übrigen nicht auch Brecht und Benjamin schon 1930 ein Journal begründen wollen mit dem Titel »Krise und Kritik«?)
Kosellecks These lautet: Die Utopien - er spricht von »Herrschaft der Utopie« -, die mit der Aufklärung entstanden, konnten in keiner nachfolgenden Gesellschaft eingelöst werden. Wie auch immer sich ein zukünftiges Europa gestaltet, wie es sich aus der aktuellen heftigen Krise heraus verändern wird, Künstler agieren dabei als Seismographen.
Deutsches Historisches Museum: Verführung Freiheit. Kunst in Europa seit 1945. Bis 10. Februar. Katalog.
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