Denksport auf der Themeninsel

Die Umwelt schützen mit Geschwafel: Im Haus der Kulturen der Welt beginnt das »Anthropozän-Projekt«

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Holozän, das Erdzeitalter, in dem wir leben, brach vor etwa 11 000 Jahren an. Dass es soeben zu Ende gegangen ist und vom »Anthropozän« abgelöst wurde, dürfte kaum jemand mitbekommen haben. Worum handelt es sich beim »Anthropozän«?

Erfunden wurde der Begriff von dem Chemiker und Nobelpreisträger Paul J. Crutzen, um damit den Anbruch eines neuen Erdzeitalters zu beschreiben, das wesentlich von der Existenz des Menschen gekennzeichnet ist: Der insbesondere seit einigen Jahrzehnten wachsende Prozess der Urbanisierung und Globalisierung, dessen Folgen unter anderem Klimawandel und Umweltzerstörung sind, ist unumkehrbar. Der Mensch formt und domestiziert nicht nur die Natur, er deformiert und destruiert sie auch.

Die Berliner Stadtillustrierte »Tip« hat es am lustigsten formuliert: In diesem neuen Erdzeitalter, das angeblich derzeit anbricht, seien der Mensch und die Natur keine Gegensätze mehr, sondern würden »beispielsweise das Klima gemeinsam machen«. So kann man's natürlich auch sagen. Anders formuliert: Spätestens seit Beginn der industriellen Revolution werden die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen zerstört, wobei der Mensch - auch dank des Kapitalismus und der modernen Industriegesellschaft, die er geschaffen hat - tatkräftig Beihilfe leistet. »Auf einen Tiger kommen heute 100 000 Hauskatzen«, sagt der Geologe Reinhold Leinfelder. Und weiter: »Heute schon gibt es Strände, wo der Sand zu 40 Prozent aus Plastikpartikeln besteht.« Was wir »Natur« nennen, verschwindet also bzw. erlebt seine vollständige Zurichtung und Ausbeutung durch den Menschen, die in den letzten 150 Jahren einflussreichste Naturgewalt.

Dennoch seien die Eingriffe des Menschen in die Natur »nicht nur destruktiv«, sondern hätten auch »positive Implikationen«, meint Leinfelder. Man dürfe das Anthropozän nicht ausschließlich »als Summe aller Umweltfrevel« wahrnehmen, so der Wissenschaftsjournalist Christian Schwägerl, einer der Kuratoren des zweijährigen »Anthropozän-Projekts« im Berliner Haus der Kulturen der Welt (HKW). Vielmehr müsse man es als »neuen Denkrahmen« betrachten, »der es uns Menschen erlaubt, ein besseres Verhältnis zur Umwelt zu gewinnen«. Schwägerl ist kein Pessimist oder Apokalyptiker, wie man unschwer erkennen kann.

Bernd M. Scherer, der Intendant des Hauses, erklärt: Die Menschen sollen »zusammenkommen an einem freien Ort des Denkens«, um dort »neue Kartographien des Wissens zu ermitteln«, was immer das im Einzelnen bedeuten mag.

Geht es nach den Kuratoren, sollen sich Künstler, Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaftler in den nächsten zwei Jahren im HKW mit »grundlegenden Fragen« beschäftigen, die aus den oben genannten Erkenntnissen resultieren. Gewünscht wird von den Veranstaltern eine künftige Wissenschaft, die »transdisziplinär« arbeiten solle und in der es gelte, den falschen Dualismus Mensch gegen Technik aufzulösen.

Im Rahmen des Eröffnungswochenendes finden noch bis Sonnabend Gespräche, Performances und Vorträge statt, in denen es um das Verhältnis von Mensch und Natur gehen soll. Im Foyer ist hinter durchsichtigen Duschvorhängen Küchenpersonal zu sehen, das an Kochgerätschaften hantiert, um die gelungene Verwandlung von Natur (Salatkopf) in Kultur (Salat) zu demonstrieren. Freilich hat man es hier nicht mit profaner Speisezubereitung zu tun, sondern mit einer »kulinarischen Intervention«.

»Wir sollten lernen, nachzudenken, Dinge zu überdenken, umzudenken und vorauszudenken«, sagt Leinfelder. Wo so inflationär das Denken beschworen wird, ist nicht ganz auszuschließen, dass es zu vielen folgenlosen Gesprächsrunden kommt, in deren Verlauf es um alles Mögliche geht, am wenigsten aber um Konkretes. Fragen werden wohl wie immer »aufgeworfen« und »Denkräume geöffnet«. Was man unter Kulturbetriebsbeamten halt so macht, wenn der Tag lang ist und der Mitteilungsdrang groß.

Auch Helmuth Trischler, beim Deutschen Museum München für den Bereich Forschung zuständiger Direktor, beherrscht die Fähigkeit, mit vielen diffusen Begriffen ordentlich Wind zu machen, ohne dass man am Ende verstünde, wovon er spricht: Sechs Mal fällt innerhalb weniger Minuten der Begriff »Denkrahmen«, drei Mal das Wort »Experimentierfeld«, je zwei Mal ist von einem »Problemraum« und von »Themeninseln« die Rede.

Da bleibt es nicht aus, dass sich auf der Pressekonferenz, auf der die Kuratoren sich mühen, ihr Vorhaben darzustellen, ein Redakteur von Deutschlandradio Kultur wie folgt äußert: »Ich gestehe freimütig, dass ich von dem, was Sie hier vortragen, nur die Hälfte verstanden habe. Meiner Frau könnte ich das nicht erklären, wenn ich nachher nach Hause komme.«

Auch aus den Informationsbroschüren des HKW, die Interessierten das »Anthropozän-Projekt« und dessen konkrete Vorhaben und Ziele vorstellen sollen, ist wenig Substanzielles zu erfahren. Auch weil darin ein teils schwer erträglicher Jargon vorherrscht, der nicht unbedingt dazu geeignet ist, Menschen an die verhandelte Materie und die zu diskutierenden Gegenstände heranzuführen. Wer etwa von einem »Archipel der Positionierungen und Diskussionslinien« spricht oder von »Routen«, die »Gedankenräume vernetzen und kontrastieren«, dem wünscht man vor allem einen guten Lektor, der oder die das Gemeinte in verständliche Sprache überträgt. »Hier ist der Mund ganz schön voll genommen«, hieß es treffend in der »Berliner Zeitung«.

Ob die aufgrund der verblasenen postmodernen Begrifflichkeiten überambitioniert wirkende und prätentiös daherkommende Veranstaltungsreihe am Ende mehr sein wird als eine »vom Kulturbetrieb simulierte Weltklimakonferenz«, wie im »Tip« zu lesen war, ist ungewiss.

Bis 2014, Haus der Kulturen der Welt, Tel.: (030) 39 78 70, Infos: www.hkw.de

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -