Auf Mission gegen das Vergessen
Shoah-Überlebende Margot Friedländer liest im Museum der Dinge aus ihrem Buch
Es ist ein ganz besonderer Abend an diesem Mittwoch im Kreuzberger Werkbundarchiv/Museum der Dinge. Das seit 1973 bestehende Museum hat in Kooperation mit dem Kreuzberg Museum die Shoah-Überlebende und Zeitzeugin Margot Friedländer zur Lesung aus ihrem Buch »Versuche, dein Leben zu machen. Als Jüdin versteckt in Berlin« mit anschließendem Gespräch eingeladen.
Der Veranstaltungsort war dabei nicht zufällig gewählt worden. In dem ehemaligen Industriegebäude in der Oranienstraße 25 waren bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges die Betriebsstätten der Deutschen Tachometer Werke (Deuta-Werke) untergebracht, in denen Margot Friedländer als junge Frau Zwangsarbeit verrichten musste. Es war das erste Mal überhaupt, dass die heute 91-Jährige an diesen Ort zurückkehrte. Umso größer war das Interesse des Publikums. Die vorhandenen Sitzplätze reichten bei weitem nicht aus, um die vielen Besucher unterzubringen.
Eine Historikerin, die sich mit der Geschichte der noch existierenden Deuta-Werke beschäftigt, berichtete in ihrer Eröffnungsrede über den mangelnden Aufarbeitungswillen des Unternehmens. So habe sich die Firma, die ihren Hauptsitz heute im Bergischen Land hat, beispielsweise geweigert, die Verlegung von Stolpersteinen vor dem Gebäude zu unterstützen. »Das Unternehmen will sich ganz offensichtlich nicht mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen«, so ihr Fazit. Umso wichtiger sei es, dass Zeitzeugen über das Erlebte berichten.
Über die Zeit von Verfolgung, Terror, Zwangsarbeit und Krieg zu erzählen, das ist die Lebensaufgabe Margot Friedländers. »Es ist meine Mission, der jungen Generation davon zu erzählen, was damals passiert ist. Damit so etwas niemals wieder geschieht«, wie sie immerfort betont. Margot Friedländer ist gebürtige Berlinerin. Sie wurde hier 1921 als Tochter der jüdischen Familie Bendheim geboren. Als einziges Familienmitglied überlebte sie den Holocaust. Ihr Vater, ihre Mutter, ihr Bruder Ralph sowie viele ihrer Verwandten wurden von den Nationalsozialisten in Auschwitz ermordet. »Versuche, dein Leben zu machen.« Das war das Letzte, was Margot Friedländer von ihrer Mutter gehört hat. Indirekt, durch eine Nachbarin. An jenem Abend des 20. Januar 1943, als die Häscher des Naziregimes ihren Bruder aus der gemeinsamen Wohnung in der Skalitzer Straße 32 abholten und sich ihre Mutter der Gestapo stellte, war Margot nicht zu Hause. Besonders tragisch: Die Familie wollte an eben diesem Abend nach Schlesien fliehen.
Zufall oder Verrat? Sie stand nun ganz alleine vor der Entscheidung: Sollte sie sich ebenfalls der Gestapo stellen oder dem Vermächtnis ihrer Mutter folgen und versuchen zu überleben? Sie entschied sich für ein Leben im Untergrund, in ständiger Angst entdeckt zu werden. Nach 15 Monaten, in denen sie bei Helfern in wechselnden Wohnungen in Berlin untertauchte, wurde sie gefasst und in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert.
An das, war ihr bei ihrer Gefangennahme durch den Kopf ging, erinnert sie sich heute noch sehr genau: »Ich war nun nicht mehr allein, das Ich war wieder zum Wir geworden. Von nun war ich wieder Teil meiner Familie, Teil der Leiden meines Volkes.« Dass sie überlebt hat, war reiner Zufall, wie sie sagt. Gemeinsam mit ihrem Mann emigrierte Margot Friedländer 1946 nach New York. Seit 2010 lebt sie auf Einladung des Senats wieder in Berlin. Für ihr Engagement an Schulen erhielt sie im November 2011 das Bundesverdienstkreuz.
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