Von der Mauerstadt zum Markenkern
Ab 2014 soll es in Berlin die »City Tax« geben, eine Steuer für Touristen. Die freie Kulturszene will davon profitieren
Dass jemand, der einen Zwölf-Stunden-Arbeitstag hat, von umgerechnet drei Euro Stundenlohn leben muss, ist in Berlin keine Seltenheit. Nicht nur Putzfrauen aus Bulgarien oder Bauarbeiter sind davon betroffen, sondern auch zahlreiche freischaffende Künstlerinnen und Künstler aller Sparten. Im vergangenen Jahr haben viele von ihnen einen Zusammenschluss gegründet, die »Koalition der freien Szene«, eine Art Lobbyverband aus Clubbetreibern, Kindertheatermachern, Kleinkünstlern, DJs und anderen, der für sich reklamiert, für »95 Prozent aller Kulturschaffenden« Berlins zu sprechen, und finanzielle Unterstützung fordert.
Geht es nach dem Berliner Senat, soll noch dieses Jahr, spätestens aber ab dem 1. Januar 2014, nach dem Vorbild der »Kulturabgabe« in Hamburg auch in Berlin eine Art Bettensteuer eingeführt werden, die sogenannte City Tax, eine Steuer auf private Hotelübernachtungen in Höhe von fünf Prozent. Auch der Hotel- und Gaststättenverband ist dafür, möchte aber, dass die Steuer als Kulturabgabe ausgewiesen wird. 75 Prozent der Berlin-Besucher kommen wegen der Kultur in die Hauptstadt, wie der Tourismusverband Visit Berlin ermittelt hat: Berlin-Touristen sollen zu den Kosten ihrer Übernachtung einen kleinen Aufschlag bezahlen, der, so die Idee, am Ende auch der freien Kultur zufließt. 50 Prozent der zu erwartenden Steuereinnahmen, so wird von der freien Szene gefordert, sollen unabhängigen Künstlern und Kulturinstitutionen zugutekommen. Das wären 17,6 Millionen Euro jährlich.
Im Grunde handelt es sich dabei um eine großartige Idee: Die Lebenssituation der hier arbeitenden und häufig prekär lebenden Künstlerinnen und Künstler wird verbessert und kreatives Leben, das abseits von institutionalisierten und subventionierten Einrichtungen wie Opernhäusern, Staatstheatern und Museen stattfindet, wird gefördert. In einem offenen Brief der Initiative an die Stadt aus dem vergangenen Jahr hieß es etwa: »Die Koalition der Freien Szene wehrt sich gegen den sich abzeichnenden Paradigmenwechsel von Kulturförderpolitik hin zu einer Investitionspolitik, die die Künste in freien Strukturen primär Verwertungszwängen aussetzt und damit die Autonomie der Kunst beschädigt.«
Bei einer Podiumsdiskussion im »Radialsystem« kamen vorgestern nun sowohl Vertreter der freien Kulturszene zu Wort als auch Politiker wie André Schmitz, Berlins Kulturstaatssekretär, die der Idee einer City Tax befürwortet. Schmitz zeigte sich allerdings skeptisch, »ob auf diese Art die Stundenlöhne der Künstler erhöht werden können«. Klar wurde jedoch leider auch, dass der Kardinalfehler, die Kultur einer Stadt ausschließlich als einen ökonomischen Faktor zu betrachten, bis heute wesentlich die Politik bestimmt. Burkard Kieker beispielsweise, Geschäftsführer von Visit Berlin, sagt: »Städte funktionieren nicht anders als Konsumprodukte.« Er spricht vom »Markenkern« Berlins, von »Alleinstellungsmerkmalen« und davon, dass man 2012 »25 Millionen Übernachtungen generieren« konnte. Wer so spricht, von dem ist anzunehmen, dass er sich weitaus mehr für Zahlentabellen als für Kunst interessiert. Ärgerlich daran ist, dass sich auch viele Vertreter der freien Kulturszene dieser rein ökonomischen Argumentation nicht entziehen, sondern nicht anders sprechen als Marketingstrategen. »Kultureller Mehrwert, der geschaffen wird, sollte der Politik auch mehr wert sein«, sagt der Kulturunternehmer Jochen Sandig, der einst das Kunsthaus Tacheles und das Tanzensemble von Sasha Waltz mitgründete.
Was die Stadt Berlin bis Mitte der 1990er Jahre für viele junge Leute, die hier leben wollten oder als Gäste herkamen, interessant machte, waren keine sogenannten Mega-Events in riesigen Mehrzweckhallen. Die Häuser waren grau, die Mieten niedrig und die Partys endeten weit nach dem Morgengrauen. Off-Theater, kleine Galerien und zahlreiche Technoclubs entstanden in heruntergekommenen Hinterhöfen, vergessenen Speichern und Kellergewölben. Viele dieser Orte sind heute wieder verschwunden.
Das vielgerühmte und angeblich so außergewöhnliche »Flair« Berlins, von dem heute so inflationär die Rede ist und das seit Jahren Heerscharen von Touristen anlockt, ist nicht etwas, das künstlich von Marketingunternehmen, Stadtplanern und Kulturfunktionären geschaffen wurde. Hipness lässt sich nicht erzwingen. Das »Flair« entstand, weil – im Gegensatz zu heute – noch nicht jeder unbebaute Fleck, jede verfallende Lagerhalle und jede ungenutzte, alte Fabriketage in der Stadt achtlos an Investoren und Großkonzerne verscherbelt wurde.
Die Menschen wurden nicht von der Werbung für den »Kulturstandort Berlin« angezogen. Von Alleinstellungsmerkmalen, Standortfaktoren und Markenkernen wurde seinerzeit noch nicht gesprochen. Berlin wurde vielmehr lange als Freiraum und Experimentierfeld wahrgenommen, in dem der allgegenwärtige Zwang zur ökonomischen Selbstverwertung zumindest zeitweise suspendiert war: Nicht das Geld stand im Vordergrund, sondern das Vergnügen daran, Räume zu schaffen, mit denen man sich von der standardisierten Nullachtfünfzehn- und Proseccogläschen-Kultur abgrenzte. So entstanden etwa die heute legendäre »Bar 25« am Spreeufer, das »Kiki Blofeld« oder der Club »Maria« am Ostbahnhof, die heute nicht mehr existieren, weil sie von einer ignoranten Stadtentwicklungs- und Kulturpolitik zum Aufgeben genötigt oder verdrängt wurden.
Statt aggressives Standortmarketing zu betreiben, wäre der freien Kultur Berlins mehr gedient, wenn in der »Kulturmetropole Berlin«, die oft genug provinziell anmutet, Politiker und Unternehmer begriffen, dass nicht jedes auf einem U-Bahn-Waggon angebrachte Graffito eine »Schmiererei« darstellt. Mit Graffiti besprühte Häuserzeilen können auch ein Standortfaktor sein, um es einmal so zu sagen.
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