Störfall vorm »Sonnenkäfer«
In Garching steht ein Forschungsreaktor - in unmittelbarer Nähe werden Kleinkinder betreut
Blickt man von der Münchner Boltzmannstraße Nr. 15 nach Osten, so kommt unweigerlich ein silbergraues, seltsam abgerundetes Ding ins Blickfeld. Das ist das sogenannte Atom-Ei von Garching, in dem 1957 die erste nukleare Kettenreaktion in Deutschland stattfand. Das ist lange her und seit dem Jahr 2000 ist der Reaktor abgeschaltet und das Gebäude steht unter Denkmalschutz. Die Atomspaltung findet jetzt gleich nebenan in einem großen blockartigen Gebäude statt - dem »Forschungsreaktor München II« (FRM II). Dieser gehört zur Technischen Universität München (TUM), wie alles hier auf dem hochmodernen Universitätscampus am Rande von Garching, einer 15 000-Einwohner-Stadt direkt vor den Toren Münchens. Zur TUM gehört auch die Kinderkrippe »Sonnenkäfer« in der Boltzmannstraße 15. Zwölf Kleinkinder werden hier betreut, die Krippe ist nur ein paar Gehminuten vom Reaktor entfernt. Spielende Kinder in Sichtweite eines Reaktors? Das klingt nicht unbedingt nach einem Ort, an dem Eltern ihren Nachwuchs gern betreut wissen.
Das Studentenwerk München - Betreiber der Krippe - erklärt jedoch: »Die Eltern studieren oder arbeiten selbst in Garching und sind sich dessen bewusst, dass es dort den Reaktor gibt. Ein Teil der Eltern arbeitet selbst im Reaktor.« Zudem liege ein Informationsblatt zum FRM II im Foyer des »Sonnenkäfers« aus. Sicherheitsbedenken hat man offensichtlich keine: »Wir haben alle entsprechenden Fragen von Anfang an mit der zuständigen Aufsichtsbehörde geklärt. Wenn sich Nachfragen und Befürchtungen bei den Eltern ergeben, sind wir gerne bereit, diese aufzugreifen. Im Gefahrenfall informiert die TUM unter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben die Kita-Leitung vor Ort«, so die Aussage des Studentenwerks.
Dass Störfälle aber niemals ausgeschlossen werden können, zeigt ein Vorfall aus dem vergangenen November: Plötzlich musste der Reaktor außerplanmäßig heruntergefahren werden; Messungen zeigten die drohende Überschreitung eines Grenzwertes an.
Vier Tage vor Weihnachten verkündeten die Reaktorbetreiber dann wieder Normalbetrieb an der Forschungsneutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz. Man habe den Reaktor am 9. November »vorsorglich« heruntergefahren, weil sich die Abgabe eines radioaktiven Isotops (C14) dem Jahresgrenzwert angenähert hatte. Der Grund seien die im Jahr 2012 »häufiger erfolgten Trocknungen der Ionenaustauscher-Harze, die zur Reinigung des Wassers im Moderatortank dienen«. Künftig wolle man die Isotopabgabe durch »einfache chemische Auswaschung« minimieren. Radiologisch hätten sich »keine relevanten Auswirkungen auf die Umgebung« ergeben.
Nun ist es so, dass seit der Grundsteinlegung für das Atom-Ei nicht nur viel Wasser die Isar hinabgeflossen ist, sondern auch unzählige Male von offizieller Seite versichert wurde, wie ungefährlich Atomkraft sei. Nach der Katastrophe von Tschernobyl kostete der damalige Umweltminister Alfred Dick (CSU) gar verstrahltes Molkepulver, um dessen Unbedenklichkeit zu demonstrieren. Seither hat sich allerdings ein gewisses Misstrauen im öffentlichen Bewusstsein abgelagert, was die Atomkraft anbelangt.
Auch Ludwig Hartmann, Abgeordneter und Atomexperte der Grünen im bayerischen Landtag, will sich mit der Erklärung der Reaktorbetreiber nicht zufrieden geben. Ihm sei in Bayern kein weiterer Fall bekannt, bei dem ein Reaktor abgeschaltet werden musste, weil die Überschreitung eines Grenzwertes für radioaktive Emission drohte. Außerdem sei die Öffentlichkeit von der Universität sehr verhalten informiert worden. Jetzt hat Hartmann eine schriftliche Anfrage an die Staatsregierung gestellt. So will er etwa wissen, ob zwischen Messungen des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) und den Eigenmessungen der Reaktorstation ein Unterschied bestehe. Denn nach seiner Information hätten erst BfS-Messungen zur Abschaltung geführt. Hartmann will zudem wissen, wann die Bayerische Atomaufsichtsbehörde erstmals von den unterschiedlichen Messwerten erfahren und welche Maßnahmen das Umweltministerium ergriffen habe, nachdem die C14-Emissionen bekannt wurden.
Für Hartmann ist die Abschaltung ein gravierendes Ereignis. Der Reaktor habe eine lange Warteliste für wissenschaftliche Projekte, und wenn ein Forschungszyklus unterbrochen werde, sei dies keine Lappalie. FRM II ist seit 2004 in Betrieb, produziert Neu- tronen und dient damit der physischen, biologischen und chemischen Grundlagenforschung. Die Energieleistung von 20 Megawatt ist im Vergleich zu der herkömmlicher Atomkraftwerke gering: So haben die beiden Reaktoren im AKW Gundremmingen zusammen etwa 1700 Megawatt Leistung.
Aufklärungsbedarf über die Abschaltung sieht mittlerweile auch die SPD im Landtag. Deren Energieexperte Ludwig Wörner stellte einen Berichtsantrag zum Vorfall. Darin wird die Staatsregierung aufgefordert, den Abgeordneten einen umfassenden Bericht vorzulegen, was aber länger dauern kann. Auch Wörner bemängelt die unzureichende Information der Öffentlichkeit: »Wir wollen endgültige Aufklärung darüber, welche Mängel und Schwächen zur Abschaltung des Reaktors geführt haben.«
Als energiepolitischer Sprecher hatte Wörner schon oft mit dem FRM II zu tun. So steht dauerhaft der immer wieder verschobene Termin für die Umrüstung des Reaktors auf minderangereichertes Uran im Raum. Das hochangereicherte Uran, mit dem er derzeit betrieben wird, kann zum Bau von Atomwaffen verwendet werden. Deshalb werde seine Nutzung im FRM II weltweit kritisiert, so Wörner. Besonders die USA fürchten, dass dadurch die internationalen Bemühungen zur Nichtverbreitung von Kernwaffen konterkariert werden könnten. Die Planer des FRM II hätten die internationale Abrüstungspolitik aber viele Jahre schlicht ignoriert, so Wörner. Der Bund hatte den Reaktorbau nur genehmigt, weil Bayern sich verpflichtete, bis spätestens 31. Dezember 2010 die Umrüstung vorzunehmen. Mittlerweile liegt der Termin bei 2018.
Im Mai 2011 stellte Wörner eine schriftliche Anfrage wegen Korrosionsschäden in der Anlage, im August desselben Jahres kritisierte er, dass zu wenig Personal für Strahlenschutzmaßnahmen vorgesehen sei. Angesichts des öffentlichen Drucks sei es verwunderlich, so der Abgeordnete, »dass sich die Betreiber des Forschungsreaktors immer noch offensichtliche Schwächen leisten«.
Nicht weit entfernt von Reaktor und Kinderkrippe »Sonnenkäfer« hielten Ingrid Wundrak und sechs Mitstreiter vor gut zwei Jahren an der Lichtenbergstraße 3 ein Transparent in die Höhe. Es ging um ein neues Kinderhaus, das eröffnet werden sollte. »Unverantwortlich« sei es, so die Grünen-Stadträtin und Aktivistin der Bürgerinitiative gegen den Atomreaktor Garching, dass in unmittelbarer Nähe des FRM II eine Kindertagesstätte betrieben werde.
Und es werden immer mehr: Neben dem »Sonnenkäfer« und dem Ingeborg-Ortner-Kinderhaus mit 58 Betreuungsplätzen findet sich in der Boltzmannstraße 4 inzwischen die »Wichtel-Akademie« mit 96 Krippen- und Kindergartenkindern.
Belastbare Studien über einen Zusammenhang zwischen Krebserkrankungen bei Kindern und der Nähe zu Reaktoren gibt es kaum. Die KiKK-Studie (2007) zeigt jedoch eine leicht erhöhte Leukämierate bei unter-Fünf-Jährigen, die in geringem Abstand zu einem Reaktor lebten. Ein Zusammenhang mit der Strahlung ließ sich aber - auch aufgrund geringer Fallzahlen - nicht klar herstellen.
Hartmann spricht sich zwar nicht für eine Verlegung der Krippen aus, hält es aber für sehr wichtig, dass die Messwerte offengelegt werden. Ähnlich sieht es Wörner. Für Karin Wurzbacher, Gründungsmitglied der »Mütter gegen Atomkraft« und Physikerin am Umweltinstitut München, ist es dagegen vorstellbar, dass um Reaktoren eine Schutzzone eingerichtet wird, in der keine Krippen genehmigt werden. »Ein derartiger Vorsorgegedanke«, meint Wurzbacher, »wäre nicht dumm.«
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