Der alte Fischer und das geschrumpfte Meer

Dank einem Dammbau beginnt sich der Kleine Aral in Kasachstan wieder mit Wasser aus dem Syr-Darja zu füllen, der Große Aral aber scheint unrettbar verloren

  • Irina Wolkowa, Aralsk
  • Lesedauer: ca. 7.0 Min.
»Verdammt, wo ist sie bloß?« Beide Hände um das Lenkrad gekrampft, die Augen zusammengekniffen, sucht Temirbulat Mussajew nach Orientierungshilfen für die Fahrt durch eine Landschaft. die an einen Planeten außerhalb unseres Sonnensystems erinnert: Grobkörniger, anthrazitfarbener Sand dehnt sich, so weit das Auge reicht, durchzogen von breiten Bändern weiß glitzernder Salzkristalle. Erstarrte Ströme, die einem sepiafarbenen Horizont entgegenstreben, wo sich ein Sturm zusammenbraut.
»Wenn jemand sie weggeschleppt und verschrottet hat, bei den vierzig Göttern der Großen Blauen Jurte, ich bringe ihn um. Eigenhändig.« Doch Temirbulat braucht niemand umzubringen. Hinter einem Yulgun - einem rot blühenden Dornenstrauch, der seine Pfahlwurzel tief in den Boden geschlagen hat - liegt, was er sucht: eine Boje, über und über mit Rost bedeckt. So wie die Schiffe, denen sie früher den Weg wies, halb im Sand versunkene Kolosse, vor denen ein paar Kamele wiederkäuen.

In einer Sturmnacht
brach der Damm
Noch vor 40 Jahren viertgrößtes Binnengewässer der Erde - neunmal so groß wie der Bodensee - ist der Aral heute auf 20 Prozent seiner ursprünglichen Fläche geschrumpft. Das Wasser, das ihn einst füllte, wurde für Kraftwerke, Baumwoll- und Gemüsefelder abgezweigt - was eine der größten Umwelt- und Klimakatastrophen der Neuzeit auslöste. Wolken können sich über der Restpfütze von knapp 12 000 Quadratkilometern kaum noch bilden, die Sommer werden trockener und noch heißer. Tonnenweise wirbeln Stürme Salzstaub vom einstigen Seeboden auf. Er vergiftet das Trinkwasser, macht Felder und Weiden unfruchtbar. Betroffen sind im weiten Umkreis über 70 Millionen Menschen.
Ein Sandsturm, meint Temirbulat, habe auch die Boje ein paar hundert Meter durch die Luft gewirbelt. Behutsam richtet er sie wieder auf. Jedes Mal, wenn er hier vorbeikommt. Nur dann, glaubt er, wird auch das Wasser zurückkommen. Einmal war es fast schon so weit. »Die Wildgänse brüteten schon wieder hier, auch ein paar Schwäne. Wir hatten sogar angefangen, einen Kanal zu graben, um den Schiffen den Weg frei zu machen. Zurück zum Meer«.
Teniz - Meer - nennen Kasachen und Usbeken den Aral - den Edelstein der Götter, der ihnen beim Spiel entglitt und auf die Erde fiel. Weil er schon 2015 gänzlich von der Landkarte verschwinden könnte, bauten die Menschen am kasachischen Nordufer Mitte der 90er Jahre einen Damm. Aus Erde und mit primitivem Werkzeug. Er sollte das kleine, tiefere Becken im Norden von dem großen, flachen Aral im Süden abriegeln. Fast fertig, brach er im März 1999.
»Es war kurz vor vier Uhr morgens. In einer Sturmnacht, so dunkel wie das Wasser, das plötzlich durch die Öffnung im Damm gurgelte. Auf der anderen Seite standen ein paar schwere Kipper, die wurden von der Woge mehrere hundert Meter weit mitgerissen. Vier Menschen starben. Ein paar konnten sich auf die Dächer von Lastern retten. Doch auch dort reichte ihnen das Wasser schon bis zum Knie, als Hubschrauber sie am nächsten Morgen retteten.«
Darunter auch Temirbulat, der in der dritten Person erzählt, um das Grauen auf Distanz zu halten und seither von einem richtigen Damm träumt. Und mit ihm fast 100 000 Menschen am kasachischen Ufer. Die Bewohner von Aralsk, wo Temirbulat zu Hause ist, einst Hafenstadt und inzwischen über 120 Kilometer vom Meer entfernt. Die Nomaden, die der Futtermangel zwingt, die Weideplätze immer schneller und immer häufiger zu wechseln. Vor allem aber die Fischer.

Ein Mosaik im
Bahnhof von Aralsk
Ein Güterzug aus 40 Waggons, bis zum Rand mit Fischen aus dem Aral gefüllt, bewahrte im Bürgerkrieg Anfang der 20er Jahre Tausende Menschen an der Wolga vor dem Hungertod. Ein Mosaik im Bahnhof von Aralsk erinnert bis heute daran - vor allem Zugereiste, denn Einheimische kennen die Geschichte von den Akteuren.
»Mein Großvater hat sie oft erzählt. Er war Fischer. Mein Vater auch und sogar meine Mutter. Im Zweiten Weltkrieg, als die Männer an die Front mussten, waren die Frauen draußen auf dem Meer. Irgendwie mussten wir ja überleben.« Otuzbay Sikminbetow dagegen, Temirbulats Onkel, hat sich längst auf Kamelzucht umgestellt. Kamele können das brackige Wasser trinken, dass in Tas töbek, seinem Dorf, aus den Pumpen kommt. Nur ein Brunnen liefert Süßwasser zweifelhafter Qualität. »Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt«, sagt Otuzbays Schwiegertochter Indira, »Fremde aber holen sich Durchfall oder weiß der Teufel was.« Doch Fremde verirren sich selten nach Tas töbek, wo es weder Strom noch Telefon gibt.
Ganze 500 Menschen wohnen noch in den Hütten, die sich unter der weißen Sonne ducken. Kein Laut, kein Baum, kein Strauch. Weit und breit nur Kameldorn, braunes, von der Hitze versengtes Gras und am Horizont ein blassblauer Streifen, der mit dem gleichfarbigen Himmel verschwimmt: das Meer. »Wir haben Glück im Unglück. Hier am Steilufer war das Meer in meiner Kindheit über 40 Meter tief. Daher können wir es jetzt wenigstens noch sehen und bei Westwind sogar hören«, sagt Otuzbay und holt das Motorrad aus dem Schuppen, wo einst sein Boot stand.
Sechs Kilometer sind es bis zum Wasser. Es reicht Otuzbay noch nicht einmal bis zu den Hüften, wenn er 500 Meter vom Ufern entfernt die Reusen kontrolliert, mit denen er manchmal noch fischt. Der Fang ist mies: Weil der abflusslose Aral kaum noch Frischwasser bekommt, ist sein Salzgehalt dreimal höher als in den Weltmeeren. Nur Flundern, meint Otuzbay, hätten auf längere Zeit Überlebenschancen. Eine dänische Hilfsorganisation hat die Plattfische hier Mitte der 90er Jahre angesiedelt. Otuzbay, der damals am Balchasch-See, fast tausend Kilometer östlich, als Fischer arbeitete, ließ dort alles stehen und liegen, als er davon hörte. »Ohne das Meer kann ein Aral-Kasache so wenig überleben wie ein Fisch auf dem Trocknen. Irgendwann bringt die Sehnsucht dich um.« Oder der Wodka, mit dem Otuzbay am Balchasch seinen Kummer betäubte: die Flasche in der einen, Muscheln vom Aral in der anderen Hand.
»Als ich sie das erste Mal wieder unter meinen nackten Füßen spürte, hab ich eine noch halbvolle Flasche fest zugeschraubt und ins Meer geworfen. Seitdem lässt der böse Geist mich in Ruhe«, sagt Otuzbay und löst seinen letzten Fang aus den Maschen: einen Fisch mit goldfarbenen Schuppen, der nach Luft schnappt und mit der Schwanzflosse um sich schlägt.
»Dummchen, du«, sagt Otuzbay und seine Augen werden ganz weich. »Hab keine Angst, ich tu dir nichts.« Vorsichtig lässt er ihn zurück ins Wasser gleiten. »Ein Sazan«, flüstert er andächtig. Eine Goldbrassen-Art, die im Aral längst als ausgestorben gilt. »Machs gut!«, ruft Otuzbay und starrt der Schwanzflosse hinterher, die noch einmal in der Sonne blinkt. »Und komm mich mal besuchen, wenn mein Haus wieder am Meer steht!«
Schon in zwei Jahren, hofft er, könnte es so weit sein. Denn seit Herbst 2003 wird ein neuer Damm gebaut, aus Stahlbeton. Dort wo der alte brach. Zwischen zwei Inseln, die seit ein paar Jahren Halbinseln und 480 Meter voneinander entfernt sind. Die letzte Lücke schlossen sie im August.
Gleichzeitig wurde der Syr-Darja, der einzige Zufluss des Kleinen Arals, am versandeten Unterlauf ausgebaggert, damit er dem Meer wieder die einstige Wassermenge zuführen kann: 800 Millionen Kubikmeter jährlich. Bisher kam im Delta nur ein Zehntel davon an. 600 Quadratkilometer trockenen Seebodens sollen wieder geflutet werden, schon 2007 könnte der Kleine Aral fast vier Fünftel seiner einstigen Größe erreichen: 3500 Quadratkilometer. Auch der Salzgehalt sinkt dadurch allmählich.
Allein die erste Baustufe, finanziert mit Krediten der Weltbank, schlägt mit 85 Millionen US-Dollar zu Buche, die zweite, für die die kasachische Regierung dank boomender Erlöse aus dem Ölgeschäft Mittel aus dem eigenen Haushalt bereitstellen will, kostet mindestens weitere 120 Millionen. Generalauftragnehmer ist ein Moskauer Unternehmen, spezialisiert auf Wasserbauten unter Extrembedingungen. Für Oberbauleiter Nikolai Mischin, der seit über 20 Jahren auf Großbaustellen in der Dritten Welt das Kommando führt, war der Aral die bisher mit Abstand härteste Nuss: »Dass wir an diesen Belastungen nicht gescheitert sind, grenzt an ein Wunder. Obwohl der Bau nur zwei Jahre dauerte, ist unsere Technik schrottreif«.

Kaum Hoffnung für
die Usbeken im Süden
Immerhin: Seit Anfang November steigt das Wasser. Otuzbay merkt es an der Latte, die er in den Seeboden gerammt hat. Auch bei spiegelglatter See liegt die Kerbe, die den alten Pegelstand markiert, schon eine Handbreit unter der Wasseroberfläche. Trotz Rheuma und seiner 64 Jahre steht Otuzbay täglich am Strand, starrt auf die dunklen Wogen mit den weißen Kämmen und hält nach dem Sazan Ausschau. Schon sieht er Temirbulats Boje wieder schwimmen. In seinen kühnsten Träumen sogar die gestrandeten Schiffe.
Trotzdem ist ihm manchmal unbehaglich zumute. Dann nämlich, wenn er an seine usbekischen Kollegen am Südufer denkt. Der Große Aral bekommt wegen des Damms noch weniger Wasser und ist, wie O...

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