Kampfanzug und Papageienschaukel
Ein unbekanntes Kapitel der Militärdiktatur in Brasilien: Junta rekrutierte Indigene als Hilfspolizisten
Der Film ist ohne Ton und doch beredt: Anfang November 1971 in Brasilien. Belo Horizonte, Hauptstadt des Bundesstaates Minas Gerais im Südosten des Landes. Das Militär regiert mit eiserner Hand. In Kampfuniform, mit Springerstiefeln, den Arm zum Führergruß in den blauen Himmel gereckt marschieren Angehörige vom Stamm der Maxacali, Carajá, Xerente und Kraho am Innenminister der machthabenden Militärjunta, José Costa Cavalcanti, vorbei. Zwei Mitglieder der frisch gegründeten »Indigenen Landwache« (GRIN) tragen einen »Pau de Arara«. Dicht über dem Asphalt baumelt, an einen Ast gebunden, Kopf nach unten, ein Mann. Schon die portugiesischen Kolonialherren hatten diese Foltermethode der »Papageienschaukel« genutzt zur Bestrafung von Sklaven, um an Informationen zu kommen oder Widerstand zu brechen.
Die langhaarigen Männer im Film sind rekrutiert als Sondereinheit der Polizei, um die Staatsgewalt der Junta auch in den Indigenen-Gebieten durchzupeitschen und »kommunistischen Tendenzen« Einhalt zu gebieten. Die GRIN kommt bei Zwangsvertreibungen, Razzien und Massenverhaftungen zum Einsatz. 250 Cruzeros Novos, (heute rund 370 Euro) ist der Monatssold der gegen die eigenen Leute rekrutierten Stammesangehörigen. Sie zeigen, was sie während der dreimonatigen Ausbildung gelernt haben: Zu Demons-trationszwecken wird ein Mann mit Tritten zu Boden geworfen und fixiert. Gnadenlos hält die Kamera des Jesco von Puttkammer auf die Szenerie. Der deutschstämmige Dokumentarfilmer, nach dem Zweiten Weltkrieg als Fotoreporter für die BBC und National Geographic in Brasilien unterwegs, war im Auftrag der nationalen Indigenenbehörde FUNAI vor Ort. Obwohl die Bilder über vierzig Jahre alt sind, sorgt der Dokumentarfilm für Aufmerksamkeit und Verwirrung in Brasilien. Denn er bietet einen neuen, verstörenden Blick auf jüngste Geschichte.
1964 war der demokratisch gewählte Präsident Joâo Goularts von der heimischen Elite in Politik, Wirtschaft und Militär aus dem Amt geputscht worden. Mit seinen Reformversuchen, etwa die Nationalisierung ausländischer Unternehmen, hatte er mitten im Kalten Krieg eine rote Linie überschritten. Mit Hilfe Washingtons, US-Marineverbänden und der CIA drehten die alten Machthaber das Rad der Geschichte gewaltsam zurück. Parteien, Gewerkschaften und Kirche wurden gleichgeschaltet, die Demokratie ist nur noch Fassade. Auch FUNAI und einige Indigenen-Stämme ließen sich vor den Karren der Generäle spannen, wie Puttkammers Film bezeugt. Das habe selbst sie überrascht, sagt die Anthropologin Sylvia Caiuby Novaes von der Universität Sao Paulo gegenüber der Tageszeitung »Folha«. Bisher habe man Indigene nur als Opfer von Krankheit, Fortschritt und Raubbau an der Natur gesehen. Oder sie stillten als »Postkarten-Indios« aus einer fernen Welt jenseits der Städte Sehnsucht und Neugierde auf Andersartigkeit, »rein und nahe der Natur«, Die wiederentdeckten Puttkammer-Aufnahmen stellen diesen Blick auf den »guten Wilden« in Frage, findet Caiuby. Sie zeigen eine bisher unbekannte, »dunkle Phase im Kontakt zwischen dem brasilianischen Staat und Indigenen-Gruppen«.
General Cavalcanti war laut alten Zeitungsberichten mit der Parade seiner indigenen Kämpfer zufrieden. »Nichts macht mich so stolz wie Pate der Ausbildung der Indigenen-Garde zu sein, und ich bin sicher, dass dieses intensive Training ein Beispiel für alle Länder der Welt sein kann«, zitierte ein Lokalblatt damals den Minister. Der in den USA ausgebildete Totengräber der brasilianischen Demokratie hatte 1968 ein Dekret ausgearbeitet, nach dem Staatspräsident und Junta ohne Parlament und Wahlen willkürlich Politiker ernennen und wieder absetzen konnten. Missliebigen Bürgern wurde das Grundrecht auf freie Wahl von Beruf, Wohnort, Eigentum oder Meinungsfreiheit entzogen. Anfang der 1970er Jahre war die Macht der Junta auf ihrem Höhepunkt. Die Wirtschaft boomte, doch zehn Prozent der Brasilianer, so viele wie nie zuvor, litten an Hunger. Über 12 000 Menschen schmachteten wegen ihrer politischen Opposition zum Regime in Haft. Hunderte wurden über die Jahre am helllichten Tag abgeholt, in Geheimgefängnisse geworfen, zu Tode gefoltert oder verschwanden, teils ohne jegliche Spur zu hinterlassen.
Puttkammer hat Repression und Gewalt am eigenen Leib erfahren. Der in Brasilien geborene Adlige studierte im schlesischen Breslau Chemie, als er nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges von der Gestapo wegen Spionageverdacht verhaftet und gefoltert wurde. Nach dem Krieg war er als Fotograf Zeuge der Nürnberger Kriegsverbrechertribunale und hielt den Bau von Brasiliens neuer Hauptstadt Brasília auf Zelluloid fest, die der deutsche, kürzlich verstorbene Architekt Oscar Niemeyer in den Dschungel treiben ließ. In den 1960er Jahren nahm Puttkammer erstmals an einer Expedition zu Indigenen-Stämmen in Zentralbrasilien teil.
In Resplendor in Minas Gerais hatte die Diktatur ein Folterzentrum eingerichtet, in dem auch »Experimente« an Menschen verübt wurden. »Das war ein ethnisches Konzentrationslager«, klärt der Anthropologe Benedito Prezia vom der Katholischen Kirche nahestehenden »Indigenen Missionsrat« auf. Indigene, die sich gegen den sie vertreibenden Bau von Straßen und Staudämmen stellten, landeten hier. Den Widerstand indigener Amazonas-Bewohner etwa beim Bau der Überlandstraße BR-174 erstickte die Junta mit Maschinenpistolen, Granaten und Dynamit. Über 3000 Indigene seien Opfer dieser Straße geworden, über die Rohstoffe aus den entlegenen Gebieten in die Fabriken der Städte gebracht werden.
Dass Indigene nicht nur Opfer, sondern auch Täter waren, ist zunächst einmal ein Schock. »Ich war einfach nur perplex als ich die Filmaufnahmen gesehen habe«, bekennt ein Radiojournalist aus Sao Paulo. Ende 2012 hatte die von politischen Häftlingen gegründete und von der Europäischen Union finanzierte Nichtregierungsorganisation »Tortura Nunca Más« (TNM) (deutsch: Nie wieder Folter) das Material veröffentlicht und zusammen mit Tausenden Dokumenten an die neu gegründete Wahrheitskommission überreicht. Unbeachtet lagerte der Film mit dem Titel »Arara« im Indio-Museum von Rio de Janeiro, bis ihn Marcelo Zelic, TNM-Vize-Präsident und Mitglied der Kommission für Gerechtigkeit und Frieden der Diözese São Paulo, wiederfand.
Paulo Sergio Pinheiro ist Mitglied der Wahrheitskommission, die von der Präsidentin und Ex-Guerillera Dilma Rousseff gegen den Widerstand des Militärs ins Leben gerufen worden ist. »Das Öffnen dieses Käfigs voller Knochen ist für Brasiliens Gesellschaft ein Novum, die Wahrheitskommission hat darum eine eigene Arbeitsgruppe über Indigene«, so Pinheira. Argentinien und Uruguay haben Verantwortliche der Diktaturverbrechen längst hinter Gitter gebracht Ein Amnestiegesetz verhinderte in Brasilien Gerechtigkeit bis heute.
Die in Puttkammers Film dokumentierte Indigenen-Garde wurde Ende der 1970er Jahre aufgelöst - nach massenhaften Beschwerden über Vergewaltigungen und Machtmissbrauch. Die indigenen Kollaborateure in Uniform waren der Junta über den Kopf gewachsen.
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