Hobrechts Radialsysteme entwässern Berlin

Das zuletzt erbaute Pumpwerk XI an der Erich-Weinert-Straße in Prenzlauer Berg ist längst in Pension gegangen

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: ca. 3.5 Min.
Wer durch die Erich-Weinert-Straße stromert, stößt kurz vor der Greifswalder Straße auf einen alten Gebäudetrakt, der seine schmutzige, übelriechende Bestimmung hinter einer gefällig geschwungenen Fassade aus roten Ziegeln mit Sandsteinschmuck tarnt. Auf dem gepflasterten Hof gruppieren sich um einen hohen eingeschossigen Zentralbau mit Esse weitere Häuser. Beim Betreten des gepflegten Komplexes taucht man in ein für jede Großstadt essenzielles Kapitel ihres Funktionierens ein. Mitte des 19. Jahrhunderts verfügte Berlin, mehr als 400 000 Einwohner zählend, weder über zentrale Wasserversorgung noch über ein effizientes Entwässerungssystem. Ihr Wasser bezogen die Bürger aus rund 600 öffentlichen, 14 400 privaten Brunnen oder der Spree. Fäkalien, Tierdung sammelte man in Gruben auf dem Hof, häufig in fataler Brunnennähe. Abwasser, Unrat beförderte man auf die Straße, wo sie in Rinnsteinen, einen halben Meter tief, 60 Zentimeter breit, nur teils überdacht, mit anderem Schmutz in Fäulnis übergingen. Verhängnisvoll gütig fing die Spree diese Kloake auf. Aus dem Grundwasser der Brunnen gelangte sie, nur unzulänglich erdgefiltert, zurück in die Haushalte. Regelmäßig auftretende Epidemien - Cholera, Typhus, Ruhr - waren die Folge. Berlins erstes Wasserwerk, 1856 vor dem Stralauer Tor an der Spree errichtet, versorgte den als Erdhochbehälter angelegten Speicher des Prenzlauer Bergs auf dem ehemaligen Windmühlengelände an der Belforter Straße zwar mit Reinwasser. Das nunmehr bequeme Zapfen sowie die Verbreitung von WCs ließen Wasserverbrauch und Abwassermenge steigen, was den hygienischen Zustand der Straßen, nach anfänglicher Besserung, dramatisch verschlimmerte, speziell bei Frost. Eine Cholerawelle 1866 beschleunigte den Änderungswillen. 1867 analysierte eine Kommission unter Leitung von Rudolf Virchow den Ist-Zustand, wertete Gutachten über Entwässerungssysteme in England und Frankreich aus, empfahl den Bau der Kanalisation mit anschließender Abwässerreinigung durch Verrieseln. Für die technische Umsetzung berief man James Hobrecht, von dessen einschlägigen Erfahrungen als Stettiner Stadtbaurat Virchow Kenntnis bekam. Hobrecht (1825-1902), Offizierssohn aus Ostpreußen, hatte sein Studium an der Königlichen Bauakademie Berlin als »Baumeister für den Wasser-, Wege- und Eisenbahnbau« abgeschlossen und 1859-62 als »Kommissarius zur Ausarbeitung der Bebauungspläne für die Umgebung Berlins«, des bis heute fortwirkenden »Hobrecht-Plans«, seine erste große Bewährungsprobe bestanden. Man ernannte Hobrecht 1872 zum »Chefingenieur der Kanalisation«, nachdem ein früherer Kanalisationsentwurf seines Mentors Eduard Wiebe gescheitert war. Hobrechts Bruder Arthur, zum Oberbürgermeister ernannt, mag das Vorhaben befördert haben. Unumstritten waren die »Peströhren« nicht, fürchteten doch die Unternehmer der Fäkalienabfuhr um ihr Geschäft, die Hausbesitzer finanzielle Mehrbelastung. Im März 1873 genehmigte der Magistrat Hobrechts Entwässerungsplan. Sein geniales Konzept sah 12 unabhängige, erweiterungsfähige Entwässerungsgebiete, Radialsysteme genannt, vor, mit Wasserläufen und durch Geländehöhen gebildeten Wasserscheiden als natürlichen Grenzen. Dem für jedes Radialsystem erforderlichen Pumpwerk, möglichst an einem tiefen Punkt und nahe einem Gewässer gelegen, flossen im freien Gefälle durch unterirdische Tonrohre und gemauerte Kanäle das Abwasser aus Haus und Gewerbe sowie das Regenwasser zu. Dort wurde es vorgefiltert und durch eiserne Druckrohre zu den Rieselfeldern gepumpt. Im Januar 1876 nahm das Pumpwerk an der Schöneberger Straße für das die Friedrichstadt, Dorotheenstadt, Alt-Kölln und Tiergarten umfassende Radialsystem III den Betrieb auf, weitere zehn Radialsysteme entstanden bis zur Jahrhundertwende. Als letztes Entwässerungsgebiet folgte im Auftrag der Städtischen Kanalisationswerke 1907-09 das Radialsystem XI mit einem Pumpwerk an der heutigen Erich-Weinert-Straße. Seine Konstrukteure, Stadtbauinspektor Meier, Architekt Hösel, die Firma Stoedtner, hielten sich bei der Unterbringung der technischen Bereiche in separaten Gebäuden an die gängige Norm und gaben deren Fassaden mit Rückgriff auf die Zier des Empire eine individuelle Form. Die Hauptkanäle der Straßen mündeten im Sandfang. Aus diesem Behälter, 12 Meter im Durchmesser, 10 Meter tief, saugten die Dampfkolbenpumpen des Maschinen- und Kesselhauses das beruhigte Abwasser an, pressten es durch Druckleitungen den Rieselfeldern zu. Bis 2002 war das Pumpwerk XI in Betrieb, erzählt Olaf Retzer, bestallter Anlagentechniker der Berliner Wasserbetriebe. Er zeigt stolz das Instrumentarium: rote Elektromotoren, den Windkessel, die gewaltige beigefarbene Zwillingskolbenpumpe als Herzstück. Was im Krieg zerstört wurde, ergänzte man aus anderen Pumpwerken. 1981 begann Retzer hier seine Lehre als Maschinist, wartete die Anlagen im Schichtsystem bis 2001. Die Nieten des Kühlwasserbehälters von 1892 im Keller, 23 100 Liter fassend, hat er selbst silbrig angestrichen. Seit 2002 arbeitet hinter dem historischen Gebäude das vollautomatische, fernüberwachte neue Pumpwerk. Leer steht nun das alte Maschinenhaus, still sein Laufkran, leer auch das Sozialgebäude für die Arbeiter. Das Haus des entsorgten Sandfangs konnte als Proben- und Spielort für Tanz vermietet werden, aus dem maler...

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