Der Tag, an dem sein Glaube zerbrach
Die schier unglaubliche Geschichte des Ernst Torgler - der Partei treu gedient und dann schnöde denunziert
Die schockierende Nachricht erreichte Ernst Torgler noch in Reichweite des Tatortes. Der Vorsitzende der KPD-Fraktion hatte am 27. Februar 1933 spät abends das Gebäude verlassen. Auf dem Heimweg noch rasch bei »Aschinger« am Bahnhof Friedrichstraße eingekehrt, alarmierte ihn ein Kellner: »Der Reichstag brennt!« Die sichtbare hektische Aktivität der Polizei, begleitet von Rundfunkberichten mit der Schuldzuweisung an »kommunistische Brandstifter« bewogen Torgler zur Übernachtung bei einem Genossen. Am Morgen entschloss er sich zu einem Schritt, der angesichts des neuen »Rechtsempfindens« seit Hitlers Machtergreifung als hoch riskant gelten musste: öffentliche Verwahrung gegen den Brandstiftungsvorwurf beim Berliner Polizeipräsidenten. Dementis per Zeitung entfielen, da KPD-Blätter bereits verboten und zahlreiche Genossen verhaftet worden waren.
In Begleitung seines Rechtsanwalts Dr. Kurt Rosenfeld gab Ernst Torgler im Polizeipräsidium zu Protokoll: »Ich komme hierher, um mich dagegen zu verwahren, dass ich in der Presse und in der Öffentlichkeit der Teilnahme am Reichstagsbrand verdächtigt werde. Ich habe nicht fluchtartig den Reichstag verlassen, ich stelle mich hier zur Verfügung und will diese Verdächtigung klären.« Die polizeiliche Antwort erfolgte unverzüglich: Verhaftung. So wurde dieser 28. Februar für den nunmehrigen Häftling zu einer Zäsur: Sein Glaube an den Rechtsstaat, den er auch parteiintern stets gegenüber mehrheitlich radikalen Genossen vertreten hatte, war an diesem Tag zerbrochen.
Der politische Aufstieg Torglers in die KPD-Führungsspitze war frappierend. Der am 25. April 1893 in Berlin-Kreuzberg als Sohn eines städtischen Arbeiters Geborene wollte Lehrer werden; ein illusionärer Wunsch angesichts steter Not der Familie. Zeitlebens aber verbanden sich Wissensdrang mit sozialem Engagement. Er besuchte zahlreiche Bildungskurse und wurde 14-jährig Mitglied der sozialistischen Jugend. 1917 trat er der USPD bei. Bei Ausbruch der Novemberrevolution 1918 war er kurzzeitig Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates Neuruppin. Wieder in Berlin vollzog er 1920 den Übergang seiner Partei zur KPD mit. Hier erwarb er sich rasch als Bildungsobmann einen Namen; 1921 wurde er unbesoldeter Stadtrat in Berlin-Lichtenberg. Die Anforderungen stiegen: 1922 hauptamtlicher Sekretär der KPD und zwei Jahre später Abgeordneter im Reichstag. Im Gegensatz zur Mehrheit seiner Genossen sah er das Parlament nicht als »Schwatzbude« an und erledigte korrekt den umfangreichen »Papierkram«. Auf Grund seiner Sachlichkeit wurde er parteiübergreifend geschätzt. Seit 1929 Fraktionsvorsitzender war er faktisch das Pendant zum KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann. Im Gegensatz zur »roten Faust« Moskaus stand Torgler auf dem Boden der Weimarer Verfassung - bis eben zu jenem 28. Februar 1933.
Die Haft, über Monate an Händen und Füßen gefesselt, dauerte bis zum Prozessauftakt vor dem Reichsgericht in Leipzig Ende September 1933. Da sich, trotz vieler Versuche der Familie, kein parteinaher Verteidiger fand, willigte Torgler schließlich ein, sich von einem NS-Juristen verteidigen zu lassen. Vor Gericht stellte er klar: »Mein Verteidiger, Herr Dr. Sack, hat der Öffentlichkeit gegenüber erklärt, dass er mich verteidigt als Menschen und als den Kommunisten Torgler, dass er aber nicht verteidigt die Kommunistische Partei. Ich habe nun die unbedingte Absicht, meine Partei mit allen mir zu Gebote stehenden Kräften zu verteidigen.«
In Leipzig angeklagt wurden neben Torgler der Holländer Marinus van der Lubbe sowie die bulgarischen Kommunisten Georgi Dimitroff, Blagoi Popoff und Wassil Taneff. Als prominentester Zeuge der Anklage trat Hermann Göring auf. Dimitroff machte mehr als eine Stunde von seinem Fragerecht Gebrauch und verwickelte den Reichsinnenminister in diverse Widersprüche, gipfelnd in dessen Wutschrei »Warten Sie nur, bis wir Sie außerhalb der Rechtsmacht dieses Gerichtshofes haben werden, Sie Schuft, Sie!« Abschließend beantragte der Oberreichsanwalt für Torgler sowie van der Lubbe die Todesstrafe; die bulgarischen Angeklagten seien »mangels Beweisen« freizusprechen. Am 23. Dezember, dem 57. Verhandlungstag, erging der etwas modifizierte Urteilsspruch: »Die Angeklagten Torgler, Dimitroff, Popoff und Taneff werden freigesprochen. Der Angeklagte van der Lubbe wird ... zum Tode und dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt.« Torglers Freispruch führte ihn sofort in »Schutzhaft« und ins KZ. Die KPD ließ ihn 1935 öffentlich fallen: Parteiausschluss. Begründet wurde dieser u. a. damit, dass Torgler sich freiwillig der NS-Justiz gestellt und einem Nazi-Verteidiger zugestimmt habe.
Konträr zum Reichsgericht hatte im September 1933 ein Aufsehen erregender Gegenprozess in London stattgefunden. Namhafte Gegner des Faschismus wiesen dort die »kommunistische Reichstagsbrandstiftung« zurück und klagten vielmehr das Hitlerregime an. Als rasch weltweit gefragtes Fazit erschien noch 1933 das »Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror«. In London hatte auch Torglers vierzehnjähriger Sohn Kurt ausgesagt, seine Gefängnisbesuche beim Vater sowie die vielfachen vergeblichen Bemühungen um einen antifaschistischen Verteidiger geschildert. Kurt Torgler übersiedelte anschließend in die Sowjetunion und wurde dort 1937 wegen »trotzkistischer Aktivitäten« zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt; 1940 lieferte man ihn auf direktes Ersuchen von Hitler und Goebbels nach Deutschland aus - als familiären Faustpfand. Ernst Torgler wurde zur Mitarbeit am Nazisender »Concordia« erpresst, dessen Programm sich in englischer Sprache gegen den Kriegsgegner Großbritannien richtete. Torgler schrieb einige, wohl bewusst revoluzzerhafte Aufrufe; der Sender wurde bald wieder abgeschaltet.
Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion wurde Ernst Torgler nicht mehr gebraucht. Man schob ihn 1941 in eine Kriegs-Treuhandstelle nach Graudenz ab, dann nach Trebbin/Berlin ab und im Februar 1945 nach Bückeburg in Niedersachsen. Hier erlebte er mit dem Einmarsch der US-Armee den Untergang des Hitlerregimes.
Von Bückeburg aus schrieb Ernst Torgler noch im Herbst 1945 einen zwölfseitigen, sehr persönlichen Brief an Wilhelm Pieck, bis 1933 sein Stellvertreter in der Reichstagsfraktion. Er berichtete über die vielfältigen Repressionen als NS-Geisel und resümierte: »Meine Liebe zur deutschen Arbeiterklasse habe ich nie eingebüßt, wenn ich auch seit dem Sommer 1933 den Glauben daran verloren habe, dass es ihr von innen heraus gelingen würde, das Nazisystem zu stürzen.« Er bat um Verständnis: »Ich musste mir einmal alles das vom Herzen reden, was ich 12 Jahre lang mit mir herumgetragen habe. Vielleicht erscheint doch manches in einem anderen Lichte, als Ihr es von draußen gesehen habt ... Ich wäre Dir deshalb dankbar, lieber Genosse Pieck, wenn Du mir persönlich eine Antwort oder eine Stellungnahme der Partei... zukommen lassen würdest. Im Voraus herzlich dankend, bin ich mit den besten Grüßen Dein Ernst Torgier.« Er erhielt keine Antwort, doch die KPD-Kreisleitung Bückeburg wurde im November 1946 durch Pieck informiert, »eine Aufhebung des Ausschlusses und eine Aufnahme in die KPD kommt unter keinen Umständen in Betracht. Soll Torgler durch eine ehrliche Arbeit sich von der Schuld befreien, die er durch sein eines Kommunisten unwürdiges Verhalten während des Reichstagsbrandprozesses und in der übrigen Hitlerzeit auf sich geladen hat.«
Ernst Torgler, der eine politische Heimat brauchte, trat schließlich 1949 der SPD bei und wurde Angestellter der Gewerkschaft ÖTV in Hannover. Er starb am 19. Januar 1963. Der parteiamtliche Bannfluch überlebte ihn: Noch 1970 behauptete das »Biographische Lexikon/Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung«, seine Erklärungen hätten dazu beigetragen, »die Wahrheit über den Naziterror in Deutschland zu verschleiern«.
Von unserem Autor erschien 2006 im Trafo-Verlag »Ernst Torgler - Ein Leben im Schatten des Reichstagsbrandes«.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.