Kein Klaviertiger

Jascha Nemzow spielte die »24 Prelúdes« von Vsevolod Zaderatsky im Konzerthaus

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Pianist Jascha Nemzow spielte das weitgehend unbekannte, reichlich halbstündige Werk »24 Prelúdes« von Vsevolod Zaderatsky zu Beginn und wiederholte es am Ende des Abends im Otto-Saal. Dazwischen Gespräch, kommentierte Videoeinblendungen (Notenbilder, Fotos, geografische Karten etc.), das Publikum ist immer einbezogen. Dies ist die Struktur von »2 x hören«, einer der Reihen des Hauses, die der Konzerthausdramaturg Arno Lücker entworfen hat und, wie es scheint, erfolgreich umsetzt.

Den Programmzettel erhält der Hörer erst nach beendeter Veranstaltung. Die Musik, die Bilder und Gespräche können so unvoreingenommen erlebt werden. Viele Leute kamen. Neben dem Pianisten wurde auch Vsevolod Zaderatskys Sohn, der genauso wie sein Vater heißt, herzlich begrüßt. Er wurde 1935 geboren und war Professor für Musikwissenschaft am Moskauer Konservatorium.

Jascha Nemzow indes betreibt zugleich Musikwissenschaft. Derzeit untersucht er, wichtig genug, noch unerschlossene Bereiche jüdischer Musik. 1963 in Magadan geboren, lebt der Pianist seit 1992 in Deutschland. 30 CDs spielte er bislang ein, darunter die »24 Prelúdes« von Schostakowitsch, deren Aufführung am 24. Mai 1933 Zaderatsky noch gehört haben könnte. Gewiss ist es nicht. Die eigenen »24 Prelúdes« weisen zwar stilistische Ähnlichkeiten auf - dergleichen war Zeitstil in den Zentren rund um den Globus - , doch offenkundige Anlehnungen oder gar Zitate aufzusuchen, dürfte vergeblich sein. Nemzow, freundlich, kommunikationsfreudig, wenn es sich ergibt, zu Pointen aufgelegt, ist freilich Könner seines Fachs. Der Pianist, aus bester russischer Klavierschule herkommend, ist das Gegenteil eines Klaviertigers. Sein Spiel ist besonnen, fast analytisch und zugleich energisch, kraftvoll, sofern die Noten es verlangen. Routine? Mitnichten. Viel Geist ist zu investieren in meisterlich gearbeitete polyphone Musik. Äußerlicher Klavierismus macht sie lasch und langweilig. Und um Polyphonie handelt es sich. Zaderatskys Prelúdes sind fast durchweg kontrapunktisch angelegt.

Jascha Nemzow und Arno Lücker zeichneten die Biografie und das Profil des Komponisten. Kompositorisch hatte der Jüngling Glück. Zaderatsky, geboren 1891 in Riwne (heute Ukraine), durfte am Moskauer Konservatorium bei Sergej Tanejew, dem Meister der Polyphonie, Komposition studieren, daneben Klavier bei Heinrich Pachulski. Zu Diensten stand er als Musiklehrer ausgerechnet den Romanows, der kriegerischen Zarenfamilie (zur Zeit des Ersten Weltkriegs, in dem Zaderatsky für die Kaiserlich-Russische Armee kämpfte), der Baumeisterin und Verwalterin des russischen Völkergefängnisses. Sie wurde 1917 verjagt und erhielt 1918 durch Tod ihre gerechte Strafe. So wurde das auf der Veranstaltung natürlich nicht gesagt.

Der Komponist konnte sich glücklicherweise retten, schlug sich als Militär und Konterrevolutionär zu den Weißen, wurde von den revolutionären Roten gefasst, mit denen die Weißen genauso kurzen Prozess gemacht haben wie umgekehrt (auch das wurde so nicht gesagt), und erlitt darauf ein schlimmes Schicksal.

Gerüchten zufolge soll Felix Dserschinski, der irgendwo anerkennend Zaderatskys Klavierspiel vernommen haben soll, den Künstler vor dem Tode bewahrt haben. 1925 hatte Zaderatsky noch erste Erfolge als Pianist und wurde Mitglied der Assoziation für zeitgenössische Musik, später hatte er Gulagaufenthalte zu überstehen und erhielt fast durchgängig Aufführungsverbot. 1939 erfolgte die Entlassung aus dem Gulag. Keine Auskünfte erhielten die Hörer darüber, was der sowjetische Verteidigungskrieg ihm bescherte. Zaderatsky starb 1953 in Lwow. Nemzow meint, der Schöpfer der »24 Prelúdes« sei einer der bedeutendsten russischen Komponisten seiner Zeit. Nun, durch die Brille des Neoklassizismus gesehen, mag das teils zutreffen. Allein, die »24 Prelúdes« geben diese Etikettierung nicht her. Die meisten Teile wirkten brav, assoziieren, ja kopieren die verschiedensten Stile, Wendungen, Partikel renommierter Kollegen wie Chopin, Milhaud, Debussy, Mussorgski. Die Schlüsse, Dur- oder Moll-Akkorde oder auf einen einzelnen Ton, leugnen konsequent die Dissonanz. Das Stück »Heimat«, Jascha Nemzow spielte es als Zugabe, ist der reine Kitsch. Gleichwohl gab es viel Beifall für den instruktiven Abend.

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