Vergötterung und Verdammung

Am 5. März 1953 starb Josef W. Stalin - Wird Russland seinen Schatten niemals los?

  • Horst Schützler
  • Lesedauer: 5 Min.

Trotz zunehmender Entfernung von jener Epoche, die Stalin wesentlich prägte, verlischt der Streit um ihn nicht. Dieser wird in Russland und anderen Nachfolgestaaten der UdSSR unter den Bedingungen marktwirtschaftlicher Meinungsbildung unvermindertweitergeführt.

Da wird Stalins »Weg zur Macht« und auf dem »Gipfel der Macht«* verfolgt. »Geheimnisse der Macht« und »Das geheime Leben Stalins« werden enthüllt. Es wird versucht, der »Magie des Woshd« (Führers) auf die Spur zu kommen. »Stalin und die Deutschen« geraten ins Blickfeld. Der Fernsehpublizist Leonid Mletschin geht der Frage nach »Weshalb Stalin Trotzki tötete«. Und der renommierte Historiker Oleg Chlewnjuk betrachtet »Stalin und die Errichtung der stalinistischen Diktatur«. Ein weiterer Buchtitel lautet »Stalin und die Verschwörung der Generäle« und befasst sich mit der Kontroverse über eine tatsächliche oder angebliche »Verschwörung« unter Marschall Tuchatschewski. »Der Hof des Roten Monarchen« wird durch eine Übersetzung aus dem Italienischen vorgestellt. Bücher über seine Protegés und treuen Geheimdienst-Büttel Nikolai Jeshow als »bolschewistischer Marat« und Lawrenti Berija, »der letzte Ritter Stalins«, fehlen nicht. Sergej Chruschtschow übermittelt aus den USA in drei Bänden ein Lebensbild seines Vaters Nikita S. Chruschtschow, dem von anderen Publizisten »Die zweite Tötung Stalins« angelastet wird und den sie zudem beschuldigen, mit seinem Bericht auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 den »ersten Schritt zur großen geopolitischen Katastrophe, dem Zusammenbruch der UdSSR« getan zu haben.

»Das Wort dem Genossen Stalin« gibt Richard Kossolapow, der im Auftrag der Kommunistischen Partei der Russländischen Föderation (KPRF) die Weiterführung der »Werke« Stalins besorgt (bis 22 Bände!). 2011 erschien der erste Band einer auf zwölf Bände angelegten Dokumentation »Der Große Vaterländische Krieg 1941-1945«, in der Stalin den ihm gebührenden Platz erhalten soll. Sie will eine »glaubwürdige« Geschichte dieses Krieges, »maximal frei sowohl von Auslassungen als auch kritischen Extremen« bieten.

In der Debatte um Stalins Rolle im Krieg wie auch in der Vorkriegszeit, vor allem hinsichtlich des sogenannten Paktes mit Hitler vom 23. August 1939, gehen die Meinungen weit auseinander. Einerseits wird der Nichtangriffsvertrag verteidigt, andererseits behauptet, Stalin habe sich von Hitler übertölpeln lassen. Der bereits erwähnte TV-Star Mletschin postuliert: »Den Krieg gewann nicht Stalin. Die Wehrmacht zerschlugen solche Feldherren wie Shukow, Wassiljewski, Rokossowski, Konew, Gorbatow ... Und wenn man es noch genauer sagt, so gewannen den Krieg die Kämpfer und Kommandeure, die die Wehrmacht aufhielten und dann zurück jagten. Sie kämpften nicht für Stalin, sondern für ihr Land und ihre Familie.«

Trotz solcher Stimmen ist im heutigen Russland (und in Georgien erst recht) Stalin für viele Bürger der herausragende Partei- und Staatsführer, die bedeutendste Figur des 20. Jahrhunderts, die das Land zu Macht und Ansehen brachte und der man den welthistorischen Sieg von 1945 verdanke. In einer Umfrage im Oktober 2012 bekundeten 48 Prozent der Russen ihre Auffassung, Stalin habe in der Geschichte der Nation eine positive Rolle gespielt, 30 Prozent enthielten sich einer Wertung, nur 22 Prozent beurteilen ihn negativ. Darin wie auch in den nicht nachlassenden rehabilitierenden Publikationen sehen Intellektuelle eine Wiederbelebung des Stalinismus. Erklärt wird dies mit der Identitätskrise im postsowjetischen Russland, den Wirkungen des jahrzehntelangen Stalinkults, dem Mangel an russischer demokratischer Tradition und der Sehnsucht nach einer »starken Hand« sowie dem Wunsch nach neuer imperialer Größe Russlands. Der Renaissance des Stalinismus soll eine auf (zunächst) 100 Bände angelegte »Geschichte des Stalinismus« begegnen, die vom Verlag Russische Politische Enzyklopädie ediert und vom Jelzin-Fonds finanziell mitgetragen wird. Mehr als 80 Bände, darunter etwa die Hälfte von ausländischen Autoren, sind bisher erschienen. Darunter finden sich zwei Bücher des Berliner Osteuropa-Historikers Jörg Babarowski, der dem Beirat des Projekts angehört: »Der Rote Terror« und »Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus«. Sein drittes Buch »Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt«, das im vergangenen Jahr auf der Leipziger Buchmesse gepriesen wurde, aber unter deutschen Kollegen sehr kritisch gewertet wird (siehe »Osteuropa«, 4/2012), findet demnächst wohl auch in diese Reihe Aufnahme. Die Bände gehen an etwa tausend Adressaten, vor allem große Bibliotheken und Hochschulen (u. a. an die Bibliothek der Humboldt-Universität Berlin). Das eklektizistisch anmutende Mammutunternehmen bietet indes keineswegs eine ausgewogene Geschichte der Sowjetunion.

Am Vorabend des 65. Jahrestages des Sieges hatte Präsident Dmitri Medwedjew in einem Interview geäußert: »Menschen, die Stalin lieben oder hassen, haben ein Recht auf ihren Standpunkt. Und dass viele Veteranen, Menschen der Generation der Sieger, sich gut zu Stalin verhalten, ist nicht verwunderlich ... Etwas anderes ist es, dass solche persönlichen Haltungen nicht die staatlichen Wertungen beeinflussen dürfen ... Ja, historische Figuren können zum Objekt der Vergötterung und Verehrung werden. Dies geschieht des öfteren. Aber in keinem Fall kann man davon sprechen, dass der Stalinismus in unser alltägliches Leben zurückkehrt ... Das ist absolut ausgeschlossen«.

Der Streit um Stalin ist in Russland nicht beendet. Während die einen ihn als klugen Staatsmann, Parteiführer und Feldherrn preisen, ist er für andere ein machtgieriger, allmächtiger Diktator, ein Verbrecher mit paranoider Psyche und Gewalttäter aus Leidenschaft. Für wiederum andere war er ein Pragmatiker von intellektueller Mittelmäßigkeit, ein schwacher Herrscher und Geisel des Systems, das seinen Namen trägt und bereits den Keim des Verfalls und Zusammenbruchs in sich barg.

»Bedeutende Ereignisse im Dasein der Völker, Nationen und Staaten führen ein Nachleben. Das gilt umso mehr für solche von weltgeschichtlichem Rang«, schrieb jüngst mein Kollege Kurt Pätzold an dieser Stelle in seinem Artikel über die Schlacht von Stalingrad 1943 (siehe »nd« v. 2./3. Februar). Dies gilt natürlich auch für Personen, die im Dasein der Völker wahrlich keine marginale Rolle spielten.

*Wie auch bei nachfolgenden Zitaten handelt es sich hier um Titel von Publikationen.

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