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»Mutter, oh mati, es tut mir leid«
Ismet Prcic kehrt die Scherben einer Biografie zusammen
Prcic heißt der eine, Prcic der andere, nur ein Akzent unterscheidet die beiden. Jeder trägt den Vornamen Ismet, wird Izzy genannt, und sogar die Biografie haben sie gemeinsam. Eines aber unterscheidet die Männer: Ismet Prcic ist eine Kunstfigur, Ismet Prcic ihr Schöpfer. Prcics Roman »Scherben« erzählt von der bestürzenden Lebensfahrt seines Alter ego, und etwa so geht die Geschichte:
Ismet wird 1977 in Tuzla geboren, als Bosnier, Muslim, in Jugoslawien. Anfang der Neunziger zerfällt Jugoslawien, auch Bosnien-Herzegowina macht sich selbstständig. Es folgen mehrere Jahre Krieg, denn die drei Ethnien im Land - Bosniaken, Serben und Kroaten - versuchen, einander auszurotten. Der furchtbare Begriff »ethnische Säuberungen« macht die Runde.
Der Bosnienkrieg, das ist Ismets Jugend, eine Jugend in einer belagerten Stadt. »Im Mondschein, aus dem fahrenden Bus betrachtet, wirkte Tuzla monochrom und unbewohnt. Dunkle Fenster klafften in grauen Fassaden. Liegen gebliebene Limousinen, abgedeckt mit Planen, säumten die Straßen wie riesige Leichensäcke.« Ismets Jugend ist der permanente Mangel an Wasser, an Nahrungsmitteln, ist der Stress, die Angst. »Der Himmel wird von Geschossen zerpflügt. Explosionen. Artilleriefeuer.« Serben attackieren die Stadt, in der Ferne müsste man das Echo der NATO-Angriffe hören.
Ismet entdeckt eine Gegenwelt: das Theater; er spielt. Ein Foto zeigt einen jungen Wilden - Bürstenschnitt, grimmige Miene - vor einem Plattenspieler; er hält einen Dolch, er droht auf eine Platte einzustechen.
Mit achtzehn wird Ismet gemustert und zur bosnischen Armee einberufen, »ich fühlte mich, als hätte ich ein Haltbarkeitsdatum erhalten«. Das Theater rettet ihn. Ismets Avantgarde-Truppe erhält eine Einladung zu einem Festival nach Edinburgh. Der Junge nutzt die Chance - er emi-griert in die USA und strandet 1996 in Kalifornien. (Prcic, der Schöpfer, lebt heute in Portland, Oregon, und unterrichtet Theater an einem College.)
Ismet fühlt sich einsam in Amerika, damals, in den Neunzigern, er bekommt das eine mit dem anderen nicht zusammen, den blauen Himmel Kaliforniens und den Himmel über Tuzla, durchkreuzt von Granaten. Ismet trinkt, er wird gemieden, so ein kaputter Typ, daheim hat er eine Pistole, sie liegt im Bücherregal hinter einer Gesamtausgabe von Majakowski. Ein Therapeut rät ihm: »Schreib alles auf.«
Es gehe ihm gut, schreibt Ismet in Briefen an mati, die Mutter. Und ins Tagebuch schreibt er: »Mutter, oh mati, es tut mir leid; alles, was ich dir schreibe, ist gelogen. Es geht mir nicht gut.« Ismet ist vor dem Krieg geflohen, doch der Krieg verfolgt ihn, mit Träumen und Bildern, Sirenengeheul. »Flashback, eine Mörsergranate trifft die Turnhalle deiner Schule und die Explosion wirft dich drei Meter über den gekachelten Boden ...«
Ismet versucht, sein Leben in den Griff zu bekommen, doch er merkt, wie es auseinanderfällt, jeden Tag ein Stück mehr. Eine Biografie in Scherben. Ismet Prcic, der Autor, hat für die Erfahrungen und den seelischen Zustand seines Helden eine bestechende Form gefunden. Die Identität des Kriegsflüchtlings wurde fragmentiert, und deshalb besteht auch der Roman aus Scherben, Fragmenten. »Ich wollte das Wohlbehagen der Leser angreifen. Realität existiert nicht. Alles basiert auf Wahrnehmungen«, sagte er in einem Interview dazu.
Vier Ebenen oder Stränge durchziehen das Werk. Nummer eins, das ist das Tagebuch, durchtränkt von wachsender Schwermut. Nummer zwei: Ismets Kindheit und Jugend in Bosnien; wir sehen einen Reigen starker bunter Bilder, aus dem besonders das Porträt der Mutter hervorsticht, Kettenraucherin und Prophetin. »Es wird Krieg geben«, sagte die Mutter im Herbst 1990, und der Krieg kam.
Ebene Nummer drei gehört einer Figur namens Mustafa. Mustafa ist Bosnier wie Ismet, doch er ist im Land geblieben, ein Soldat im Krieg, einer, »der verdammt noch mal stirbt, wenn man ihm sagt, dass er verdammt noch mal zu sterben hat«. Mustafa ist Ismets Wiedergänger, Projektionsfläche für Ismets Schuldgefühle gegenüber der »Heimat«. Was Mustafa widerfährt, wäre auch Ismet widerfahren, wäre er im Land geblieben.
Eine vierte Ebene im Roman wirkt besonders verwirrend und besonders stimmig: eine Ebene der Wissenschaft; ein Apparat aus Quellen und Anmerkungen, Fußnoten, Verweisen. Der Apparat wirkt so, als hätte erst eine anonym ordnenden Kraft das Lebensbild des Ismet Prcic alias Ismet Prcic wieder zu einem Ganzen geformt.
»Scherben« ist ein wütendes und zärtliches Buch, mal düster und mal ironisch. Es zeigt, was der Krieg mit einem Menschen macht. Es zeigt auch, wo der Flüchtling am Ende lebt. »Ich habe kein Heimweh, mati«, schreibt Ismet. »Ich bin die ganze Zeit daheim. In der Vergangenheit. In der Fiktion.«
Ismet Prcic: Scherben. Roman. A. d. am. Engl. v. Conny Lösch. Suhrkamp Verlag. 445 S., geb., 21,95 €.
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