Der Schlüssel zum Haus der Vorfahren
Im spanischen Toledo finden in der Karwoche vor Ostern traditionelle Prozessionen von 21 Bruderschaften statt
Plötzlich wird die Pforte aufgerissen. Die Menge verstummt in der Dunkelheit vor dem Portal der Kirche des Klosters San Juan de los Reyes. Etwas schlägt auf Holz. Knappe Befehle zucken durch die Nacht. Einige zünden Fackeln an und ihre bläulich-samtenen Spitzhauben schimmern in fahlem Licht. Aus der Kirche vibriert ein großer Kasten heraus. Ein Tausendfüßler als trojanisches Pferd der Heiligkeit. 20 Männer der Bruderschaft vom demütigen Christus tragen ein mit blauen Irisblüten übersätes Szenenbild aus dem Leidensweg Jesu. Dabei sehen die Männer nichts, und ihnen wird vom Gildemeister befohlen, der mit seinen Marschbefehlen und Hammerschlägen die Richtung weist. Die führt durch die historische Innenstadt des 70 Kilometer südlich von Madrid gelegenen Toledo.
Die »Cofradia Hermandad del Santísimo Cristo de la Humilidad« - so ihr vollständiger Name - ist eine der insgesamt 21 Bruderschaften, die in der Karwoche vor Ostern Prozessionen durch das mittelalterliche Toledo abhalten. Die Demuts-Brüder haben ihren Lauf immer mittwochs. Vier Tage zuvor, am Vorabend des Palmsonntags, startet ein Prozessionsreigen, der sich in den darauf folgenden Tagen so richtig warm läuft. Ab Mittwoch mit zwei Nachtmärschen, steigert es sich am Karfreitag mit sechs Leidensumzügen während der ganzen Nacht bis in das Morgengrauen. Höhepunkt und Abschluss ist die Osternachtsmesse mit Erzbischof Braulio Rodríguez Plaza.
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Wenn die 1658 gegründete Hermandad der Demuts-Brüder durch die Gassen zieht, herrscht ergriffene Ruhe unter den Zuschauern. Sobald das Paso, also die getragene Leidensszene, an den Menschen vorüberzieht, verstummt auch das letzte erwartungsvolle Getuschel der Menge. Selbst die Kleinkinder auf den Rücken der Väter oder in den Armen ihrer Mütter getragen, halten still. Das Fiasko, der Zusammenbruch, das schmach- und schmerzvolle Leiden Jesu wird an diesem Karmittwoch zelebriert. Die Zuschauer harren still-passiv am Wegrand aus. Und doch wirken sie beeindruckt von diesem Passionsspiel, das so ernsthaft daherkommt mit seinen Büßern und Penitenten in schwarzen Kutten und glänzenden Spitzhauben.
Vielleicht ist es nur neugieriges Interesse an religiöser Folklore und traditionellem Brauchtum. Aber in die Herzen der Zuschauer und in die der vorbeiziehenden Mitbrüder lässt sich nicht schauen. Aber auf die Herzen wollen jetzt alle Nachtschwärmer schauen. Denn gut möglich wollen sie etwas von der Demut erlangen, für die diese Bruderschaft umherzieht. Das ist auch der Grund, warum die Männer verkleidet sind. Hinter den Augenschlitzen der Spitzenmützen sollen keine eitlen Einzelkämpfer herausschauen, sondern in Demut Gleichgewordene.
Deshalb ist diese Prozession in der Halbzeit der heiligen Prozessionswoche, vielleicht die tiefsinnigste des ganzen Unterfangens. Denn der Umzug im Zeichen der Demut ist besonders in Toledo passend. Die Stadt ist nicht irgendeine spanische Provinzstadt in der kastilischen Mancha. Die knapp 84 000 Einwohner zählende Stadt blickt auf eine über 2000-jährige Geschichte und war länger Hauptstadt als jede andere Stadt auf der iberischen Halbinsel. Von 531 bis 711 war sie das Machtzentrum der eingewanderten Westgoten und nach der maurischen Zeit von 1087 bis 1561 Hauptstadt des christlichen Spaniens. Erst danach zog der Hof nach Madrid um und Toledo versank an den Rand des Geschehens. Nur die Kirche ist der Stadt treu geblieben. Der toledanische Bischof ist noch immer der Primas der katholischen Kirche in Spanien. Dieser Verlust an Macht musste ergeben getragen werden. Doch das Bewusstsein für Demut schafft die Grundlage für Großmut und ist ein Garant gegen Kleinmut. Beides davon hat Toledo erlebt. König Alfons VI. übernahm im Jahr 1085 die Macht von den Mauren ohne die wohlhabende jüdische Gemeinde oder die Muslims zu vertreiben. Die drei unterschiedlichen Kulturen lebten lange einträglich zusammen. So können die Demuts-Prozessionen heute wieder als Schlüsselsymbol für ein gutes Zusammenleben gesehen werden. Denn es gab auch Zeiten des machtvollen Kleinmuts in Toledo. Als Tage der Judenpogrome gingen »Toledanische Nächte« 1391 in die Geschichte ein. Und 100 Jahre später, am 31. März 1492, in der Passionszeit gipfelten solche Nächte im Dekret der katholischen Könige Isabella und Ferdinand. Alle Juden, die die Taufe verweigerten, wurden ausgewiesen und die jüdische Aljama-Gemeinde aus der Stadt in alle Welt vertrieben. Auch Muslim durfte niemand mehr sein. Noch heute hängt in manchem jüdischen Haus in Griechenland ein verrosteter Schlüssel an der Wand. Dann heißt es hoffnungsvoll: »Das ist der Schlüssel, der das Haus unserer Vorfahren in Toledo öffnet.«
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Diego Esteban Sánchez bringt bei dieser Mittwochsprozession seine ganz persönliche Befindlichkeit mit hinein. Der 30-jährige Stadtführer hat in Cambridge Literatur studiert. »Eine feste Anstellung wünsche ich mir schon, so viele junge Menschen sind derzeit ohne Perspektive.« Doch er will den Mut nicht verlieren. Einen kleinen Chor leitet er, der den vier verbliebenen alten Nonnen von San Antonio während der Prozession ein Ständchen singt. Dafür wird der Paso unter großen Mühen unter den Hammerschlägen des Mayors durch das Portal in den Innenhof des Klosters bugsiert. Die Blaskapelle bleibt draußen vor der Tür und spielt danach den Marsch »Toledanische Nacht« auf. Die wird um Mitternacht fortgesetzt von den »Capítulos de Caballeros Penitentes de Cristo Redentor«. Die Ritterschaft der Büßer vom erlösenden Christus geht tatsächlich einen Bußweg. Die in weiße Kutten und schwarze Kapuzen gehüllten Männer gehen barfüßig über die kalten Pflastersteine der Altstadt. Auch hier setzt wieder betroffenes Schweigen ein, sobald der Paso und die Penitenten an den Zuschauern vorbeiziehen. Erst spät in der Nacht löst sich der Schweigemarsch im Dunkel auf.
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Am Gründonnerstag sind auch mal Frauen dran. Die Cofradiá de Nuestro del Amparo zieht von der Kathedrale über den Alcazar zurück in den Dom. Dabei tragen Männer eine Jungfrau, aber die Frauen gehen voran. Die Gesichter in feine schwarze Spitzentücher gehüllt, geben sie den eher männlichen Prozessionen einen femininen Ausdruck. Neben Maria wird auf einem anderen Paso von verhüllten Männern ein Jesus an einer Säule angelehnt durch die Gassen getragen. Nach zwei Stunden Rundlauf löst sich diese Prozession in der Kathedrale auf. Noch einmal wird gebetet, und Mayor Julian Cano Pleite weist auf den religiösen Charakter seiner Bruder- und Frauenschaft hin. Da haben sich schon viele der Bußgänger entkleidet. Hinter den Kapuzen und Spitzentüchern kommen etliche junge Männer und Frauen hervor.
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Das spricht für die Verbundenheit und tiefe Verwurzelung der festlichen Traditionen über die Generationen hinweg. So kommt es, dass von den 21 Bruderschaften die jüngste erst im Jahr 2009 gegründet wurde, und die älteste aus dem Jahr der christlichen Rückeroberung von 1085 stammt. Diese »alte, illustre und königliche Bruderschaft der heiligen Nächstenliebe und des barmherzigen Christus« führt noch nicht einmal das ganze Unternehmen der Karwoche an oder schließt es ab, sondern sie laufen Dienstagnacht ganz bescheiden durch die Stadt. Fast 1000 Jahre liegen zwischen dieser und der jüngsten Bruderschaft. Es belegt auch, dass die Prozessionen in Toledo zu den ältesten dieser Art in ganz Spanien gehören. Zu den authentischsten gehören sie allemal, weil Toledo die Hauptstadt des katholischen Spaniens ist und Spaniens Kultur- und Gesellschaftsgeschichte nachhaltig geprägt hat. Da ist es schon eine Herausforderung, dass die toledanischen Nächte der Semana Santa nur als »Festlichkeiten des nationalen touristischen Interesses« gelten. Die Prozessionen in Sevilla, Málaga, Cuenca, Cartagena, Salamanca, León, Zamora, Valladolid, Lorca und Hellín werden hingegen offiziell als »von internationalem touristischem Interesse« anerkannt.
Das ist fast schon ungerecht, aber sehr selbstlos von Toledo. Nicht ohne Hintergedanken hängt in der Sakristei der prächtigen Kathedrale in Toledo das Bild der »Entkleidung Jesu«. El Greco hat es gemalt, um die Priester beim Anlegen der liturgischen Gewänder auf ihre Begrenztheit und Bescheidenheit hinzuweisen. In diesem Raum befindet sich auch ein Fresko von der Auferstehung der Toten. Ein noch älteres aus dem 13. Jahrhundert schmückt die maurisch-mudejarische Kirche San Roman. Und im Kloster Santo Domingo de Silos el Antiguo hängt ein Greco-Gemälde von der Auferstehung Jesu neben einigen weiteren Bildern des Meisters, der anders, als die vertriebenen Juden den umgekehrten Weg von Griechenland nach Spanien ging. Kaum ein Tourist verirrt sich in diese Klosterkirche. Man muss bei den Nonnen klingeln, um eingelassen zu werden. Hier kann der Besucher ganz allein für sich großmütige Demut ohne kleinmütige Eitelkeit finden.
Nicht wie in Santo Tomé, wo Grecos Begräbnisbild vom Grafen Orgaz gegen Geld unter Massenandrang kurz besichtigt werden darf. Grecos Jesus im Domingo-Kloster steht in aller Stille auf. Durch einen Glasschlitz im Kirchenboden wird der Blick freigegeben auf einen Zinksarg. Es ist der Sarkophag El Grecos, der 1614 in Toledo gestorben ist. Doch der Sarg ist leer. Ganz wie das Grab in Jerusalem. Der Leichnam ist verschollen. Ein wahrer Abschluss der Karwoche und ein mysteriöser Ausblick auf Ostern.
- Infos: Spanisches Fremdenverkehrsamt, Litzenburgerstr. 99, 10707 Berlin, Tel.: (030) 882 65 43, E-Mail: berlin@tourspain.es, www.spain.info, www.semanasantatoledo.com
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Literatur: Gustav Fabers »Madrid und Kastilien«, Prestel Verlag München, 29,95 €. Leon Feuchtwanger »Die Jüdin von Toledo«, Aufbau-Taschenbuch, 9,99 €.
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