Leichenschau ohne Blutvergießen
Röntgen- und Kernspintomograph könnten zunehmend das Skalpell ersetzen
Jährlich sterben mehr als 800 000 Menschen in Deutschland. Rund zehn Prozent von ihnen landen auf dem Seziertisch. Die Ergebnisse von Sektionen liefern die Todesursache. Bei Opfern eines Verbrechens kann mit ihrer Hilfe nicht selten der Täter überführt werden. Künftig soll die Leichenschau in vielen Fällen unblutig ablaufen, denn die Rechtsmedizin setzt auf neue Technologien.
Kaum eine Krimiserie kommt heute ohne ihn aus: den Gerichtsmediziner. Meist steht er blutverschmiert vor einer geöffneten Leiche neben einem erblassten Kommissar und teilt nüchtern Todesursache und -zeit mit. Doch die modernen bildgebenden Verfahren sollen hier einiges verändern. Ihre Informationen können die klassische Autopsie ergänzen oder gar ersetzen. Wie sie sich das vorstellen, darüber diskutierten Experten der Rechtsmedizin und der naturwissenschaftlichen Kriminalistik auf der 84. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin Ende September in Hamburg.
»Virtuelle« Autopsie nennen die Rechtsmediziner das Verfahren, bei dem mit Hilfe der (Röntgen-) Computertomographie, Kernspin-Aufnahmen und Fotos feinste Strukturen, Verletzungen und Krankheiten an der Leiche sichtbar werden - ohne dass diese aufgeschnitten werden müsste. Die dreidimensionalen Bilder vom Inneren des Toten werden automatisch im Computer archiviert. Üblicherweise werden Obduktionen im Wesentlichen durch einen beschreibenden Text dokumentiert, den der ausführende Arzt bei der Arbeit diktiert. Das Ergebnis ist naturgemäß subjektiv gefärbt. Die digitalisierten Aufnahmen der Leiche können jedoch jederzeit vor Gericht gezeigt werden oder bei bestehenden Zweifeln per E-Mail an andere Spezialisten geschickt werden, um eine weitere Meinung einzuholen. Selbst dann noch, wenn der Tote bereits unter der Erde ist, kann man nach Verletzungen, Knochenbrüchen und anderen Spuren suchen.
Auch am Universitätsklinikum Heidelberg werden in der Rechtsmedizin seit einigen Jahren bildgebende Verfahren bei der Autopsie eingesetzt. Dass diese Verfahren jedoch die klassische Autopsie in der Rechtsmedizin ersetzen werden, glaubt Kirsten Stein vom Institut für Rechts- und Verkehrsmedizin in Heidelberg nicht. »Wir setzen den Computertomographen als Ergänzung zu einer Obduktion ein. Das ist besonders hilfreich bei präparatorisch schwer zugänglichen Körperregionen wie etwa beim Gesichtsschädel oder der Halswirbelsäule«, erklärt Stein. So können die Pathologen meist schon anhand der Schnittbilder die Verletzungen diagnostizieren. Beispielsweise lassen sich bei einer Leiche mit Schussverletzung der Weg des Geschosses oder eine Geschossablenkung bestimmen. Vorteil dieser Methode sei zudem, dass Schnitte nicht nur quer, sondern auch längs möglich seien. So würden auch kleine Frakturen der Wirbelsäule sichtbar, nach denen bei einer Autopsie kein Arzt gesucht hätte.
»Dennoch spielt bei einer Sektion immer noch das bloße Auge, das Abtasten und der Geruchssinn des Pathologen eine große Rolle. Denn nur mit dem Auge kann man erkennen, ob es sich bei dem Einschluss in der Lunge um Blut oder Eiter handelt«, so Stein.
Aber auch die Körperoberfläche kann Spuren über den Tathergang liefern. Dafür setzen die Forscher einen Oberflächenscanner ein. Berührungsfrei und hochpräzise scannt das Gerät die Oberfläche des Körpers ein und erfasst die kleinste Verletzung digital.
Kritiker weisen auf die zwei- bis drei Mal höheren Kosten der bildgebenden Techniken hin. Kirstin Stein hält dagegen: »Nicht alle Verfahren sind eine enorme Kostenbelastung, denn die Untersuchung am Computertomographen ist längst nicht so teuer wie etwa eine Kernspintomographie«.
In Bern befassen sich mehrere Arbeitsgruppen am Institut für Rechtsmedizin bereits seit 2001 mit den neuen Autopsie-Methoden. Rund 400 Leichen werden jährlich am Berner Institut seziert, davon ungefähr 120, ohne sie zu öffnen. Zuvor muss allerdings sicher gestellt werden, ob das virtuelle Verfahren überhaupt eingesetzt werden darf. Die Entscheidung liegt beim Untersuchungsrichter - sobald ihm ein Antrag der Rechtsmediziner vorliegt. Auch wenn die Richter einer »virtuellen« Autopsie zustimmen, sind die Computerbilder für eine Urteilsfindung noch nicht zulässig. Daher müssen die Pathologen nach einer Obduktion am Bildschirm immer noch einmal selbst Hand anlegen. Liegt keine gerichtliche Anordnung vor, so istzu einer Obduktion die Zustimmung der Angehörigen nötig. Viele Menschen lehnen die Körperöffnung aus religiösen Gründen ab. »In solchen Fällen könnte die "vir-tuelle" Autopsie als minimal invasiver Eingriff besonders hilfreich sein. Die Leiche wird praktisch nicht verändert«, sagt Stein.
Ein Vergleich beider Methoden macht die Stärken der virtuellen Obduktion deutlich: Blutungen und Veränderungen an den Knochen konnten mit dem Computertomographen sicher aufgespürt werden. Aber die Technik hat auch ihre Grenzen: Ein Tod durch Diabetes, Herz-Kreislauf-Versagen, Blutgefäßveränderungen oder Vergiftungen sind mit der »Virtopsie« kaum oder gar nicht zu erkennen. Nach Einschätzungen vieler Wissenschaftler werden noch 10 bis 20 Jahre vergehen bis die »virtuelle« Autopsie zur rechtsmedizinischen Routine wird. So wird in naher Zukunft wohl...
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