Hitto führt Syriens Oppositionsregierung
Nächtliche Wahl in Istanbuler Hotel / UN-Generalsekretär ruft zu politischer Lösung auf
Istanbul (Agenturen/nd). Ghassan Hitto ist von der syrischen Opposition zum Ministerpräsidenten einer Übergangsregierung gewählt worden. 35 von 49 Mitglieder der Nationalen Koalition hätten nach 14-stündigen Beratungen für ihn gestimmt, teilte ihr Vertreter Hischam Marwa in der Nacht zum Dienstag in Istanbul mit. Hitto soll Ministerpräsident für die Gebiete im Norden und Osten Syriens werden, die unter Kontrolle der Rebellen stehen.
Der aus Damaskus stammende Hitto ist Jahrgang 1963. Er hat eine Karriere als IT-Fachmann hinter sich. Mehrere Mitglieder der Nationalen Koalition verließen die Beratungen jedoch noch vor der Wahl, ein Zeichen für die Spaltungen innerhalb des größten Oppositionsbündnisses. Dennoch nannten mehrere Vertreter Hitto einen „Konsens-Kandidaten“, der auf Zustimmung sowohl beim islamistischen wie auch beim liberalen Lager stoße.
Hitto verbrachte einen großen Teil seines Lebens in den USA, wo er Mathematik und Informatik studierte. In Texas engagierte er sich zudem jahrelang für die Islam-Schule Brighter Horizons Academy. Zuletzt arbeitete er als führender Manager in einer texanischen Telekommunikationsfirma. Im November kündigte er seinen Job, um sich dem Aufstand gegen Präsident Baschar al-Assad anzuschließen. In einem kurzen Auftritt nach seiner Wahl kündigte Hitto an, so rasch wie möglich ein Regierungsprogramm vorzulegen.
Die Gegner des Regimes von Präsident Baschar al-Assad hatten lange darüber gestritten, ob jetzt schon der richtige Zeitpunkt für die Bildung einer eigenen Regierung gekommen sei. An der Abstimmung über den Regierungschef nahm die Führungsriege der Nationalen Syrischen Koalition unter Leitung von Muas al-Chatib teil. Die Mitglieder der oppositionellen Koalition durften sich nicht um den Posten bewerben.
Militärisch spitzte sich die Lage am Montag erneut zu. Angreifer feuerten nach eigenen Angaben mehrere Granaten auf den Präsidentenpalast in Damaskus ab. Laut Augenzeugen schlugen sie jedoch nicht im Palast, sondern in einem angrenzenden Garten ein. Syrische Kampfjets bombardierten erstmals ein Gebiet im benachbarten Libanon. Nach Angaben aus Sicherheitskreisen schlugen zwei Raketen in einem unbewohnten grenznahen Gebiet in der Bekaa-Ebene ein.
Der Montag war für die Regimegegner ein historisches Datum. Am 18. März 2011 hatte es in der Provinz Daraa die ersten Massenproteste gegen Assad gegeben. Die Organisation Syrischer Menschenrechtsbeobachter erklärte, sie habe seither 59 584 Tote gezählt. Die Dunkelziffer und die Zahl der Verschwundenen sei jedoch hoch, so dass die Zahl insgesamt wohl bei über 72 000 liegen dürfte. Regimegegner zählten am Montag landesweit 59 Tote.
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon rief aus Anlass des zweiten Jahrestags die Konfliktparteien erneut zu einer politischen Lösung auf, solange noch Zeit sei, eine völlige Zerstörung Syriens abzuwenden. Ban verlangte von dem in der Syrien-Frage weiterhin zerstrittenen UN-Sicherheitsrat, zu einer gemeinsamen Haltung zu kommen und den Vermittler Lakhdar Brahimi voll zu unterstützen.
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