Die Würde der Arabellion
Das Weltsozialforum in Tunesien wirft seine Schatten voraus
Tunesien oder Ägypten? Was eignet sich am besten für die Austragung des Weltsozialforums (WSF) 2013? Die Wiege der Arabellion stand in Sidi Bouzid, wo im Dezember 2010 mit der Selbstverbrennung des Gemüseverkäufers Mohamed Bouazizi der Aufstand in Tunesien begann, dem viele andere im Arabischen Frühling 2011 folgten: allen voran in Ägypten, wo der Tahrir-Platz zu einem globalen Synonym für das Streben nach Freiheit und Würde avancierte.
Die Organisatoren des WSF entschieden sich für das Thema »Würde« und das Gastgeberland Tunesien. Ein Land, das heute an einem kritischen Punkt in seinem demokratischen Wandel angelangt ist, was durch die Ermordung des tunesischen Oppositionellen Chokri Belaïd im Februar nochmals verdeutlicht wurde.
Die unterschiedlichen Akteure in Tunesien erhoffen sich vom WSF eine Vertiefung und Radikalisierung der sozialen Kämpfe, zumal es unterschiedliche lokale und internationale Akteure zusammenbringt, die in ähnliche Konflikte involviert sind. Die AktivistInnen, mit denen die Rosa-Luxemburg-Stiftung gesprochen hat, sehen das Forum als Gelegenheit, um Kontakte zu knüpfen und Standpunkte auszutauschen. Es sollen Diskussionen in Gang gesetzt werden, welche lokale und globale Perspektiven eröffnen. Zudem sollen konkrete, realistische Alternativen für die Herausforderungen entwickelt werden, mit denen die tunesischen AktivistInnen konfrontiert sind. Einige AktivistInnen wollen zudem Projekte initiieren, die über das Forum hinausreichen und die Zivilgesellschaft Tunesiens stärken.
Bei der Wahl des Gastgeberlands zwischen Ägypten und Tunesien wurde Tunesien aus Gründen der politischen Stabilität der Vorzug gegeben. Das war eine Enttäuschung für die ägyptischen AktivistInnen. Sie sehen das Forum in Tunesien nun als eine Chance, Standpunkte und Erfahrungen insbesondere mit ihren tunesischen Gegenüber auszutauschen, da doch einige Parallelen gezogen werden können. Sie hoffen zudem, dass das WSF mehr als nur ein Forum für Nichtregierungsorganisationen (NRO) wird und es sozialen Bewegungen Raum gibt, um voneinander lernen zu können.
Es gibt indes zahlreiche Bedenken hinsichtlich der Art und Weise, wie das tunesische Organisationskomitee den Planungsprozess handhabt. Einige tunesische AktivistInnen befürchten, dass das WSF nichts weiter als ein oberflächliches, bourgeoises Zusammentreffen ohne konkrete Ergebnisse werden könnte. Sie gehen davon aus, dass manche OrganisatorInnen eine radikalere und umfassendere soziale Bewegung nicht befürworten, da sie reine ReformistInnen sind, die nicht unbedingt im Interesse einer weitreichenden Revolution handeln.
Die Optimistischeren unter ihnen meinen, dass das Organisationskomitee lediglich große organisatorische Schwächen aufweise. Manche sehen darin ein Vermächtnis des Gewaltregimes, insbesondere das des tunesischen Ex-Präsidenten Ben Ali, der jahrelang die Zivilgesellschaft an der Organisation von Großveranstaltungen gehindert hatte. Diese Kompetenz liegt heute ausschließlich in den Händen der vormals Regimegetreuen. Kurzum, das Organisationskomitee sorgt für Enttäuschung.
Andere glauben, dass einige der Probleme in Hinblick auf die Organisation in erster Linie mit der Entscheidung zusammenhängen, Tunesien als Veranstaltungsort gewählt zu haben: Das Land befindet sich in einem fortwährenden revolutionären Prozess und weist eine äußerst unsichere und polarisierende politische Lage auf.
Es sollte aber erwähnt werden, dass es auch positive Beispiele lokaler und internationaler Mobilisierungsbemühungen seitens Organisationen der tunesischen Zivilgesellschaft mit Unterstützung des Organisationskomitees gibt. Ein internationales Vorbereitungstreffen fand im Dezember 2012 statt. Lokale Foren wurden in Monastir und in Jendouba im Januar 2013 organisiert.
Dementsprechend versuchen die verschiedenen AktivistInnen das Beste aus dem kommenden WSF zu machen, indem sie über Aktivitäten nachdenken, die sie entweder offiziell organisieren und vorab auf der Internetseite des Forums anmelden oder informell, indem sie sich mit anderen auf lokaler oder internationaler Ebene zusammenschließen, sofern diese über Verbindungen verfügen, die ihnen dies ermöglichen. Verschiedene Organisationen überlegen sich Aktivitäten, die außerhalb der Hauptstadt stattfinden könnten. Sie sollen aus dieser einzigartigen Gelegenheit, dass die Welt von gleichgesinnten Menschen zu ihnen gebracht wird, mit denen sie ihre Erfahrungen teilen und von ähnlichen Bemühungen lernen können, profitieren. Für alle, mit denen wir gesprochen haben, scheint es wichtig, dass die internationalen WSF-TeilnehmerInnen Einblick in die lokalen Konflikte in Tunesien bekommen, um dadurch auch allen helfen zu können.
Die Autorin Mai Choucri ist die Projektkoordinatorin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kairo.
Übersetzung aus dem Englischen: Judith Laub
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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