Polizeigewalt - »widerrechtlich und grundlos«

17 Jahre nach einer Misshandlung durch einen Bereitschaftsbeamten kämpft Iris K. für die Anerkennung von Langzeitschäden

  • Haidy Damm
  • Lesedauer: 8 Min.
Vor 17 Jahren wurde Iris K. bei einer antirassistischen Demonstration in Berlin von Polizisten schwer verletzt. Kein Einzelfall - und wie in den meisten Fällen wurden die Täter nie ermittelt. Dennoch erstritt die Betroffene Schmerzensgeld. Die Langzeitfolgen jedoch streitet das Land Berlin ab.

Es war der erste sonnige Tag des Frühlings. Bereits im fünften Jahr fand an diesem 20. April 1995 in Berlin eine Demonstration gegen Neonazigewalt statt. Seit Anfang der 1990er Jahre hatten Rechte den »Tag des Führergeburtstages« verstärkt bundesweit genutzt, um Migranten, Linke und alle anderen anzugreifen, die nicht in ihr enges Weltbild passen. »Angefangen haben die Gegendemonstrationen 1989, als der Berliner Senat migrantischen Familien geraten hatte, besser zu Hause zu bleiben, weil sie nicht geschützt werden könnten«, erzählt Iris K.* Migrantische Jugendliche organisierten Selbstschutz und riefen auf, sich »die Straße zurückzuerobern«.

An diesem Tag gingen rund 700 Demonstrantinnen und Demonstranten »Wider den rassistischen Terror« auf die Straße. Eine von ihnen war Iris K. Die damals 28-jährige Studentin erinnert sich an die Zeit von Rostock und Hoyerswerda, Mölln und Solingen: »Die rechte Szene konnte lange Zeit völlig unhinterfragt agieren. Sie passte viel besser ins Weltbild als Linke. In dieser Situation war es wichtig, politisch zu intervenieren.«

Die Demonstration durch Kreuzberg und Neukölln verlief eher ereignislos. Nach der Abschlusskundgebung an der Adalbertstraße sollte der Lautsprecherwagen wegfahren. Im Polizeibericht heißt es dazu: »Über den Lautkw wurden weiterhin Durchsagen getätigt, so daß der Eindruck entstand, daß sich ein neuer, nicht angemeldeter Aufzug bildete.« Die 23. Einsatzhundertschaft der Berliner Polizei griff ein.

»Als wir im Kreisel am Kotti ankamen, preschten die Polizisten plötzlich los und prügelten auf alle ein, die noch da waren«, erinnert sich Iris K. Sie selbst stand an der Fahrertür, als ein Polizist auf sie zukam. »Ich habe ihm den Rücken zugekehrt, weil ich dachte, vielleicht lässt er mich dann in Ruhe.« Der Polizist nahm sie in den Würgegriff, trat sie vor sich her bis vorne zur Motorhaube. »Ich habe noch versucht, mit ihm zu reden, damit er sich beruhigt. Da kam nur ein ›Halts Maul‹«. Weitere Polizisten kamen dazu, alle schlugen gleichzeitig auf sie ein: Nieren, Brustkorb, Gesicht.

Und dann passierte es. Während sie von hinten noch immer im Würgegriff gehalten wurde, zog ein anderer Polizist sie an ihrer Kapuze nach vorne und schlug ihr in den Magen. Sie bekam keine Luft mehr, sah schwarz. Gleichzeitig schlug der Polizist, der sie im Würgegriff hielt, mehrere Male mit der Faust auf ihre Wirbelsäule. Irgendwann landete sie auf dem Boden, festgenommen wurde sie nicht.

In den Berichten der 23. Einsatzhundertschaft heißt es später: »19.45: Steinwürfe auf Polizeibeamte am Kottbusser Tor. Daraufhin 4x Festnahmen, davon 3x Vermummung, 1x vers(uchte) Gefangenenbefreiung«. Und weiter: »Bei der Vornahme dieser Amtshandlungen kam es durch einen großen Teil der Personen zu versuchten Gefangenenbefreiung, die z.Tl. durch Anwendung einfacher körperlicher Gewalt in Form von Faustschlägen verhindert werden mussten.«

Iris K. ging auf Anraten von Freunden ins Krankenhaus. Dort konnte kein Bruch der Wirbelsäule festgestellt werden. Auf einen Bandscheibenvorfall wurde sie zunächst nicht untersucht. Von diesem Tag an lag sie fast ein Dreivierteljahr im Bett, die Schmerzen blieben. Diagnose: Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule. Die Ärzte rieten ihr von einer Operation ab, die Chancen standen damals 60 zu 40, dass sie vom Hals abwärts querschnittsgelähmt sein könnte.

Polizeigewalt ist kein Einzelschicksal

Im Juli 1995 stellte die Betroffene Anzeige wegen schwerer Körperverletzung im Amt. Die prügelnden Polizisten wurden nie ermittelt. Kein Einzelfall: Eine Anfrage des PDS-Abgeordneten Freke Over an den Berliner Senat zeigte, dass 1996 gegen Polizeibeamte 928 Strafanzeigen wegen Körperverletzung im Amt gestellt wurden, im Folgejahr waren es 1027. Ermittelt wurde gegen 308 bzw. im Folgejahr gegen 441 Polizisten. Angeklagt wurden 26 bzw. 14 Beamte.

Bundesweit werden nach der amtlichen Statistik, die seit 2010 erhoben wird, jährlich durchschnittlich 2000 Anzeigen gegen Polizeibeamte wegen Körperverletzung im Amt gestellt. Tobias Singelnstein, Soziologe an der Freien Universität Berlin, ist einer der Wenigen, die zum Thema Polizeigewalt forschen. Er hat herausgefunden, dass rund 95 Prozent der eingeleiteten Strafverfahren wegen Körperverletzung im Amt von den Staatsanwaltschaften eingestellt werden. In nur drei Prozent der Fälle kommt es zur Anklageerhebung.

Statistische Erhebungen über Zivilklagen auf Schadensersatz und Schmerzensgeld nach Polizeieinsätzen gibt es nicht. Amnesty International berichtet in dem Polizeibericht »Täter unbekannt« 2010 von einem weiteren Fall in Berlin. Selim Demir war im Mai 2000 auf dem Weg zu einem Polizeiwagen von zwei Polizeibeamten misshandelt worden. 2002 verurteilte das Amtsgericht Berlin einen 28-jährigen Polizeibeamten wegen Körperverletzung im Amt. Das Landgericht Berlin hob dieses Urteil zwei Jahre später auf mit der Begründung, die Aussagen der Zeugen wichen so stark voneinander ab, dass nicht mit Sicherheit festgestellt werden könne, was tatsächlich vorgefallen sei.

Am 12. Februar 2003 reichte Selim Demir Schadensersatzklage gegen das Land Berlin ein und forderte 15 000 Euro Schmerzensgeld. Das Landgericht Berlin entschied auf 3500 Euro, allerdings musste der Kläger 86 Prozent der Gerichtskosten tragen, rund 1900 Euro. Auch gegen diese Entscheidung legte das Land Berufung ein, zog diese aber Ende Januar 2009 zurück, nachdem das Kammergericht angedeutet hatte, dass die Berufung wenig Aussicht auf Erfolg haben werde. Amnesty kritisierte die Dauer des Verfahrens: sieben Jahre musste der Kläger prozessieren. In einem weiteren Fall stimmte das Landgericht Berlin im Oktober 2012 einem Vergleich zu, in dem ein Demonstrant wegen eines Polizeiübergriffs auf der »Freiheit statt Angst«-Demonstration 2009 einen Schadensersatz in Höhe von 10 000 Euro erhielt. Einige Monate zuvor waren in dem Fall zwei Polizeibeamte wegen Körperverletzung im Amt zu Geldstrafen verurteilt worden.

Menschenrechtsorganisationen, linke Gruppen und Anwälte fordern seit langem unabhängige Untersuchungskommissionen wie sie in England, Frankreich, Norwegen und Portugal üblich sind. Damit wäre das Problem der Ursachen von Polizeigewalt zwar nicht gelöst, die Vertuschung von Misshandlungen würde aber deutlich erschwert. Das hätte Auswirkungen auf Zivilklagen. Auch die in Berlin im September 2011 eingeführte individuelle Kennzeichnung könnte Ermittlungen erleichtern, konsequent umgesetzt wird sie ersten Erfahrungen nach aber nicht.

Iris K. klagte 1998 auf Schmerzensgeld gegen das Land Berlin. Vor der Zivilkammer argumentierte der Anwalt des Landes: »Davon, dass eine polizeiliche Einsatzbereitschaft in Kampfausrüstung in die Menge stürmte und die Klägerin von Polizeibeamten völlig grundlos in den Würgegriff genommen wurde, kann mitnichten die Rede sein.« Und selbst wenn, »so wären diese Handlungen gerechtfertigt«. Das letzte Wort ist dick unterstrichen.

Krasser Rückfall nach elf Jahren

Die Zivilkammer des Landgerichtes bewertete den Vorfall anders. Nicht nur, dass niemand die angeblich geflogenen Steine bestätigte, die Kammer sah es als erwiesen an, dass die Klägerin »von namentlich nicht bekannten Polizisten widerrechtlich und grundlos geschlagen wurde«. Ihr wurde ein Schmerzensgeld von 30 000 DM zugesprochen und das Land Berlin erklärte sich bereit, »für eventuell entstehende zukünftige materielle und immaterielle Schäden der Klägerin aus dem Ereignis am 20. April 1995 einzustehen«. Langzeitschäden erwartete Iris K. 1998 noch nicht. Sie konnte zwar nicht mehr alles machen, aber »mit den Einschränkungen ließ sich leben. Wenn ich gemerkt habe, es wird schlechter, dann habe ich mich eben geschont.«

Elf Jahre später, im Februar 2009, der erste krasse Rückfall. »Ich bin aufgewacht und dachte, ein Knüppel steckt in meinem Rücken. Die Schmerzen zogen in den Kopf und den Arm, ich konnte nicht mal mehr abspülen.« Wie schon direkt nach dem Übergriff sprangen Freunde ein. »Das ist bei der ganzen Sache das gute Gefühl, die solidarische Haltung der anderen. Ich war nie allein, immer hat jemand geholfen.«

Doch dieses Mal gehen die Schmerzen nicht zurück. Spätestens nach sechs Stunden Schlaf muss Iris K. aufstehen, das schlaucht. Am Computer schreiben kann sie etwa zehn Minuten. Fahrten mit dem Bus oder der U-Bahn sind schwierig wegen der unabsehbaren Bewegungen, Radfahren auch. Bis heute hat sich dieser Zustand nicht verbessert. »Ich darf keine falsche Bewegung machen.« Früher habe sie viel Sport getrieben, jetzt kann sie nicht mal mehr Schwimmen gehen. Stattdessen Therapie: vier bis fünf Mal pro Woche Rückentraining, zweimal Krankengymnastik, Akkupunktur, Massagen ...

Ihren damaligen Job als Erzieherin versuchte sie zu behalten, aber es klappte nicht. Ab dem Herbst 2009 sollte sie eine Stelle in einer internationalen Entwicklungshilfeorganisation beginnen. Das ist das, was die Südostasienwissenschaftlerin gelernt hat. Aber sie musste absagen, bevor der Job losging. Die Folgeschäden des Polizeiübergriffs waren nicht mehr zu ignorieren. Iris K. schrieb das Land Berlin an. Sie forderte Verdienstausfall und Schadensersatz. Das Land antwortete mit einer Einladung zur amtsärztlichen Untersuchung. Die Ärztin schlussfolgert: Der Bandscheibenvorfall ist keine Folge der Schläge. Ein eigenes Gutachten weist das Gegenteil nach. Für Iris K. beginnt alles wieder von vorn.

Die Unterstellung einer »Rentenneurose«

Erneut Zivilgericht, November 2012. Der Gutachter des Landes Berlin schließt sich der Amtsärztin an und argumentiert weiter: Falls die Überprüfung aller Gutachten ergebe, dass der Bandscheibenschaden doch von den Schlägen verursacht sei, dann werde er ein psychologisches Gutachten der Klägerin beantragen. Er vermutet eine »Rentenneurose«, also dass Iris K. absichtlich körperliche Symptome vortäuscht, bewusst oder unbewusst nicht gesund werden will.

Rentenneurose ist in medizinischen Fachkreisen ein umstrittener Begriff, in Prozessen um zivilrechtliche Entschädigungen und Ansprüchen aus der Sozialversicherung spielt er aber eine wichtige Rolle. Für den Anwalt von Iris K. ist der Rückgriff auf diesen Begriff ein Skandal: »Um nicht die Kosten tragen zu müssen, versucht das Land Berlin meine Mandantin als psychisch krank zu diskreditieren«, sagt Helmuth Meyer-Dulheuer. Beim ersten Verhandlungstag im Dezember 2012 stellte die Richterin der Zivilkammer 86 klar, es sei unstrittig, dass die Klägerin von Polizisten verletzt wurde. Aktenweise Gutachten liegen dem Gericht vor. Für eine Entscheidung reicht das nicht.

Die Kammer will einen Sachverständigen bestellen, der sämtliche Gutachten prüft. Wer das sein soll, ist zwischen den Parteien umstritten. Iris K. befürchtet, dass die vom Land geforderten Sozialmediziner weder fachlich kompetent noch unvoreingenommen prüfen. Sie will, dass ein Spezialist außerhalb von Berlin beauftragt wird. Das Gericht ließ seine Entscheidung offen. 17 Jahre Krankheitsgeschichte, in Formularen, Gutachten und Bestätigungen zusammengefasst, liegt jetzt auf dem Schreibtisch der Richterin. Wann eine Entscheidung fällt, ist unklar. Iris K. hat nicht viel Zuversicht: »Am Ende läuft alles darauf hinaus: Das Land Berlin will keine Verantwortung für seine prügelnden Polizisten übernehmen.«

*Vollständiger Name der Redaktion bekannt.

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