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Zur Eschatologie linker Stammtische
Neulich im Ersten: Heimkinder und ihre bitteren Erfahrungen in der bundesdeutschen Vergangenheit. Es gab einen Spielfilm und danach erzählten Betroffene vom Leid, das man ihnen antat: Ausbeutung kindlicher Arbeitskraft über kaltes Abduschen und Kontrolle aller Lebensbereiche bis hin zum sexuellen Missbrauch. Es waren Berichte von Menschen jenseits der Fünfzig. Und es waren psychische Kraftakte, wiewohl man ihr Gebrechen, diesen Lebensballast deutlich spürte. Ich dachte mir indes: Mensch, hat sich die Meinhof damals getäuscht!
Meinhof berichtete aus Heimen, machte daraus ein Drehbuch für ein Fernsehspiel. Sie wollte das Leid von Fürsorgezöglingen thematisieren. Dann kam ihre RAF-Phase dazwischen, die Ausstrahlung des Fernsehspiels wurde verschoben auf 1994. 1971 erschien das Dreh- als Taschenbuch und just warf man der Autorin aus dem Untergrund vor, sie hätte die Lage in Heimen zwecks politischer Instrumentalisierung dramatisiert. Getäuscht hatte sich Meinhof unterdessen nicht wegen der Beschreibung, die war exakt so, wie sie schrieb und wie es heute Betroffene erzählen. Getäuscht hatte sie sich, weil sie glaubte, die Fürsorgezöglinge seien eine revolutionäre Masse, die gegen diesen Kapitalismus und seine Auswürfe aufbegehren würde. Ausbeutung sei der Auslöser der Revolte.
Doch nur wenig geschah. Einige Jugendliche probten den Aufstand: Jürgen-Peter Boock, späterer RAF-Protagonist, war so ein rebellischer Jugendlicher. Doch als Massenphänomen trat diese revolutionäre Fürsorgebrigade nie auf. Stattdessen sehen wir sie heute als gebrochene Erwachsene, als vom Leben gezeichnete Menschen vor der Kamera, als Chronisten eines brüchigen Lebens. Vom psychischen Knacks für ein ganzes Leben las man vielfach.
Unter Menschen, die links ticken, hört man oft, dass die Regierung noch bitter dafür bezahlen wird, Menschen in Arbeits- wie in Perspektivlosigkeit zu stürzen. Je mehr Menschen es schlecht gehe, so behaupten sie, desto näher rücke der Wandel. Doch tatsächlich birgt diese Binsenweisheit nur eine Wahrheit: Wenn es allen schlechter geht, dann geht es eben allen schlechter. Eine höhere Wahrheit steckt hinter dem Theorem der massenweisen Verschlechterung als Grundlage zur Veränderung nicht.
Menschen in pauperistischen Verhältnissen, wie jene Menschen, die zurzeit in der griechischen Konkursmasse eines Sozialstaates vegetieren, werden nicht mit Sicherheit revolutionär, stürmen nicht mit Gewissheit die Bastille. Je länger sie darben, desto unwahrscheinlicher wird die Revolte. Die Not als Triebfeder zum Kurswechsel ist eine Mär vom linken Stammtisch, ein eschatologisches Überbleibsel aus der Zeit, da die Linken der Weltrevolution bei kühlem Bier harrten. Wer in Mangel lebt, wer ausgebeutet und drangsaliert wird, sozialer Ausgrenzung unterworfen ist, der durchlebt keinen Prozess hin zum Revoluzzer, sondern wird zum Kandidaten für psychische Hilfe.
Als Meinhof meinte, die Fürsorgeopfer würden aufbegehren, hatte man noch eine andere Auffassung von der Prägung, die jedes Umfeld auf Individuen stanzt. Man haftete auch in der undogmatischen Linken noch am hegelschen Theorem von der List der Vernunft, wonach über Umwege und Schliche der Fortschritt manifest wird. Hegels Fortschrittsfatalismus ist heute außer Mode, die Realität hat sich zu sehr als Auf und Ab erwiesen.
Vielleicht war das Elend Ursache der Revolte in Zeiten vor den Massenmedien, in denen keiner beständig repetierte, es gehe einem ja noch gut, es würde für einen gesorgt und man könne noch zufrieden sein. Wer beschwichtigte schon die Sansculotten? Denen sagte man noch ganz unverblümt, sie seien Dreck. Die Perfidie, mit der massenmedial besänftigt wird, unterdrückt die Wut als Motor und schafft psychische Wracks dort, wo revolutionäre Masse sein könnte.
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