Im Wettstreit mit Puppen

Das Chamäleon präsentiert effektvoll »DUMMY - Varieté 2.0«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist, als hätten sie Heinrich von Kleist beim Wort genommen: seinen Ende 1810 auf vier Ausgaben der »Berliner Abendblätter« verteilten Essay »Über das Marionettentheater«. Als ungemein folgenreich erwies sich in der Zukunft Kleists Nachdenken über die »natürliche Grazie«. Ob sie einzig durch die Unbewusstheit einer Marionette zu erzielen sei oder durch eine vollkommene rationale Kontrolle. Gliedermann oder Gott, lautete sein Fazit.

So philosophisch sind die beiden Ideengeber und Regisseure des neuen Programms im Chamäleon sicher nicht vorgegangen. Ihnen schwebte eher ein unbefangenes Spiel zwischen Mensch und Puppe vor, freilich mit höchster Konzentration und großer physischer Bewusstheit. Entstanden ist dabei eine verblüffende Show mit sechs Akteuren, zwei Musikern. »DUMMY« heißt sie, in Versalien, weil jenes Requisit unabdingbarer Bestandteil des Konzepts ist.

Erdacht haben es der junge artistische Allrounder Eike von Stuckenbrok und Regisseur Markus Pabst, der schon mehrfach ungewöhnliche Produktionen verantwortet hat. Wie es inzwischen internationaler Trend ist, vereinen sich in »DUMMY« Artistik und Tanz; wie perfekt, sieht man nicht alle Tage.

Die Szene bleibt leer bis auf ein riesiges »Kondom« rechts, ein Keyboard links, eine weiße Wand in der Mitte. Was Ausstatter Daniele Drobny damit zaubert, gehört zu den Wundern des zwei Stunden langen Abends, den die Leistungen der Artisten tragen. Jener, der kopfunter in der transparenten Hülle hängt, rutscht langsam herab; mit düsterem Song begleitet oben auf der Wand Sänger Reecode, was sich bald in atemberaubende Kaskaden von Ansprüngen, Würfen, Luftschrauben auflöst. In flinkem Wechsel ohne Hetze folgen rund 15 unterschiedlich temperierte Beiträge von Wagemut bis Komik.

Da liegt etwa Marjorie Nantel, studierte Tänzerin und Artistin aus Kanada, neben einer Marionette. Beide bewegen sich, die Puppe mit Mannes Hilfe; doch so brillant sich die Kontorsionistin mühen mag, die Puppe ist ihr stets eine Biege voraus. Dann wird es mystisch: Aus den Schubladen der Wand fallen Kunstköpfe, die Marjorie auf Fuß und Körper setzt, bizarre Momente in rotem Licht erzielt.

Im Gewirr von Frieder Weiss‘ Linienprojektionen schrägt sich die Szene um 45 Grad an. Fünf Akteure stülpen sich liegend jene Köpfe auf den Fuß, heben die Beine, lassen skurrile Strichmännchen entstehen und tanzen.

Zwei der Ausnahmeartisten nutzen die Schräge gleich noch für ein amüsantes Spiel mit der Technik. Was Stuckenbrok und Remi Martin, preisgekrönte Absolventen der Schule für Artistik in Berlin, rutschend an Tricks ausführen, wirkt in der Echtzeit-Videoprojektion auf der Leinwand wie im Stand und als Sieg der Schwerelosigkeit über herkömmliche Physik.

Auch der Sizilianer Alessandro Di Sazio taktet sich mit den Impulsfolgen seines Breakdance in das Bemühen um die ideale Puppenexistenz ein. An einer schwebenden Kunstdame aus Silber beweist nochmals Nantel, gemeinsam mit dem Spanier Omar Cortes Gonzalez, welche Flug- und Hangfiguren die Fantasie ermöglicht. Spektakulär das Finale vor der Pause: Wie wagemutig und synchron von Stuckenbrok und Martin an zwei chinesischen Masten turnen, als sei es das einfachste der Welt, durchwürzt noch mit heiteren Einlagen, ist großes Kino, lässig, turbulent, harmonisch bei den Umsprüngen und Abstürzen. Ein witziges Feuerwerk zweier Gladiatoren von heute.

Unstreitbarer Höhepunkt des kurzweiligen Programms voller sinnfällig verknüpfter Beiträge ist von Stuckenbroks elegante, atemberaubend originelle Äquilibristik auf einem übermannshohen Dummy. Geschmeidiges Umgleiten des »Partners«, Handstand auf dessen Kopf und Armen, einarmig und ausgelenkt, gar Salto zum Schluss aus voller Höhe - bravo!

Bis 21.7. im Chamäleon, Rosenthaler Str. 40/41, Mitte. Kartentelefon: 40 00 590. www.chamaeleonberlin.com

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