»Fluffig« sollen andere schreiben
Die Brauseboys, erste Lesebühne im Wedding, feiern zehnten Geburtstag
Die Gegend im Berliner Norden gilt vielen als unwirtlich. Sie ist einer der Flecken in der Stadt, die noch nicht gentrifiziert sind, und das sieht man ihr auch an. Nach einer Starbucks-Filiale oder einer Boutique für handgefertigte Designerschuhe wird man hier lange suchen. Manche halten genau dies für einen Vorzug: Hier wird man in Ruhe gelassen, hier gibt es noch keine eigens für Touristen errichtete Flaniermeile, keinen marktschreierisch beworbenen »Mega-Event«-Schwachsinn. Hier herrscht noch die klassische Alt-Berliner Grundstimmung: eine den Einheimischen seit Langem vertraute Melange aus Bildungsferne, schlechter Laune und Ruppigkeit. Die Rede ist vom Bezirk Wedding.
Ein Mann mittleren Alters, angegrautes Haar, eloquent und gutgelaunt, steht auf einer Bühne und liest einen Text von einem Blatt Papier, das er an einer Kladde befestigt hat. Nun könnte man meinen, dass ein solcherart reduziertes Bühnengeschehen heutzutage kaum noch jemanden vom heimischen Bildschirm weglockt. Schon gar nicht in dieser Gegend, in der das für Kulturveranstaltungen vorgesehene Budget der Anwohner nicht gerade üppig bemessen ist und bedächtiges Zuhören nicht gerade zu den am meisten verbreiteten Tugenden gehört. Doch etwa 60 Leute sind gekommen. Je fünf Euro Eintritt hat jeder von ihnen bezahlt. Einen höheren Eintritt will man nicht nehmen.
Die schmucklose, karg ausgestattete Bühne befindet sich in einem kleinen Saal, in dem offenbar für gewöhnlich Hochzeitsgesellschaften zusammensitzen oder Betriebsfeiern stattfinden. Der Saal gehört zum Restaurant »La Luz«, das gut versteckt in einem Hinterhof liegt. Daneben befindet sich ein Polizeirevier.
Seinen Text trägt der Mann überaus gekonnt vor. Sein Timing ist präzise. Die Pausen setzt er an den richtigen Stellen. Es handelt sich um eine von ihm verfasste Kurzgeschichte über nervtötende Nachbarn, eine sprachlich genau gearbeitete Studie zum ideellen Schultheiss-Berliner gewissermaßen, die viele Pointen hat, weshalb das Publikum heftig lachen muss. Ein kleines Häuflein weiterer mittelalter Männer - manchmal ist auch eine Frau zu Gast - sitzt derweil am Bühnenrand und spricht dem Bier zu. Nach und nach an diesem Abend wird jeder von ihnen ans Mikrofon treten und eine komische Geschichte vorlesen. Kurze Prosaskizzen sind es zumeist, oft nur wenige Minuten lang, skurrile Szenen aus dem Berliner Alltag. Und das Publikum wird lachen, wie immer.
Die Männer, die meisten von ihnen um die 40 Jahre alt, nennen sich »Brauseboys« und wollen keinesfalls mit einer Comedy-Show verwechselt werden. »Wir lesen nur Texte vor«, heißt es mit einem gewissen Understatement. Dieser Tage begehen sie ihr zehnjähriges Bühnenjubiläum. Sie sind die einzige wöchentliche Lesebühne im Wedding. Das sei ihr »Identifikationsmerkmal«, erklärt Robert Rescue, der von Anfang an dabei ist. Gelegentlich sei man zu Gastspielen in Kreuzberg oder anderswo. »Aber man kann ja nicht zur Wanderbühne werden.«
Jeden Donnerstagabend lesen sie ihre Geschichten vor, seit zehn Jahren. Über 500 Donnerstage. Nicht einen einzigen haben sie ausgelassen. Selbst Silvester und Heiligabend wird aufgetreten. »Als dieser Sturm Kyrill über Berlin fegte, stellte sich kurz die Frage: Sollen wir nicht besser absagen, bevor hier entwurzelte Bäume durch die Straßen fliegen? Haben wir aber nicht gemacht. Das war ein Abend, da waren nur sechs Leute da. Wir hatten sogar mal einen Abend, da kam nur ein einziger. Das war aber wohl wegen irgendeiner Fußballweltmeisterschaft«, sagt der 44-jährige Rescue, gelernter Kunststoffformgeber und Netzwerkadministrator. Das Fußballspiel dürfte nicht gerade zu seinen ganz großen Leidenschaften zählen. »Wir haben für die eine Person dann so eine Dreiviertelstunde Show gemacht«, ergänzt er. »Im Lauf der Jahre baut man ein Stammpublikum auf. Man muss es halt eine gewisse Durststrecke lang durchziehen. Bis genügend Leute sich sagen: Da gehe ich mal hin.«
Und wie entstehen die Stories, die vorgelesen werden? »Von uns setzt sich niemand hin und hat jetzt die Idee, ein riesengroßes, wunderbares literarisches Machwerk zu kreieren, sondern einfach das, was ihm passiert ist, aufzuschreiben, diese verrückte Geschichte eben aus der U-Bahn, da einen humorvollen Text dazu zu schreiben«, erklärt Paul Bokowski, der mit seinen 30 Jahren der jüngste Brauseboy ist und soeben sein erstes Geschichtenbuch publiziert hat. »Ich glaube, dass Leidenschaft eine große Rolle spielt. Dass wir einfach nicht anders können.«
»Dadurch, dass wir viel auftreten, produzieren wir auch ungemein viel. Es ist eine Art industrialisierte Form der Literatur«, ergänzt Rescue, der auch Ambitionen als Romancier hat. Soeben hat er nach über zehn Jahren nächtlicher Arbeit am heimischen Schreibtisch seinen ersten Roman abgeschlossen, eine Kriminalgeschichte. Das Manuskript liegt gerade bei einem Literaturagenten. Derzeit wird er als »selbständiger Bühnenkünstler« vom Jobcenter gefördert. »Ich habe da viel Glück gehabt. Ich habe eine gute Sachbearbeiterin gehabt, die das unterstützt hat«, sagt er. Allein vom Geschichtenschreiben und Vorlesen kann er ebenso wenig leben wie sein Bühnenkollege Hinark Husen, der hauptberuflich als Erzieher in einer Kindertagesstätte arbeitet. Die anderen vier Brauseboys versuchen hingegen, vom Schreiben zu leben, was ihnen mal mehr, mal weniger gelingt. »Wenn man das ganze Lesebühnenleben sehr intensiv betreibt, dann sollte das gehen«, meint Bokowski. Als Brauseboy verdiene man an einem Vorleseabend im Durchschnitt 40 Euro. Das ist nicht viel, doch Geld scheint ihm nicht allzu wichtig. Einer seiner Lesebühnenkollegen nennt ihn einen »Asketen«.
Die Anderen: Frank Sorge, 36, gibt nebenher Schreib-Workshops für Kinder und Jugendliche. Volker Surmann, 40, promovierter Linguist, textete auch fürs Fernsehen und fürs Kabarett und leitet seit einiger Zeit einen Kleinverlag für komische Literatur. Heiko Werning, 43, schreibt für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, etwa die »Taz« und die »Titanic«, und ist obendrein als ausgewiesener Reptilien-Experte für einschlägige Fachpublikationen tätig.
Kennengelernt hat man sich einst per E-Mail-Verteiler der Berliner Lesebühnen, nachdem einer die Idee hatte, auch im eher tristen Wedding wöchentliche Lesungen zu etablieren. Werning war einer der Interessenten. Er habe seinerzeit gerade »spaßeshalber angefangen, Texte zu schreiben und diese vorzutragen«, sich aber nicht getraut, allein auf der Bühne zu stehen, sagt er.
In einer seiner Geschichten erzählt er vom allerersten Treffen mit seinen heutigen Bühnenkollegen in dem Raum, der ihr erster regelmäßiger und langjähriger Auftrittsort werden sollte: »Der Raum war vollkommen kahl, mit nackten, geweißten Wänden, einer furchtbaren Neonbeleuchtung und einem Betonfußboden mit Farbspritzern.« Über seine Freunde, mit denen gemeinsam er bis heute öffentlich Texte vorliest, heißt es: »Na klasse, dachte ich, ich sitze hier mit einem zwergwüchsigen Zoni, einer hysterischen Schwuchtel und einem Kindergartenkind in einem nackten Weddinger Hinterhofzimmer.« Heute scheint man sich untereinander ausnehmend gut zu verstehen.
Was ist außerdem heute anders als früher? »Es ist schon auch eine Alterssache. Mit 25, da schreibt man fluffiger«, meint Rescue. Er sieht ein wenig traurig aus, als er das sagt. Doch der jüngere Bokowski protestiert heftig: »Ich habe nie fluffig geschrieben.« Offenbar stört ihn das Wort. »Fluffig« sollen andere schreiben, Unbedarftere.
Demnächst lesen die älter gewordenen Jungs aus Anlass ihres zehnjährigen Jubiläums ausnahmsweise in Neukölln. »Dem Schrauber-Micha - ein alter Gelegenheitsgast von uns, der war eigentlich Mechaniker, so ein typischer Berliner, der ab und zu leicht angetrunken zu uns in die Veranstaltung gestolpert ist und sich da auch sehr gut amüsiert hat -, dem hab‘ ich erzählt, dass wir bald in Neukölln auftreten«, erzählt Rescue. »Und da guckt der mich lange an. Ich frage ihn also, ob er hinkommen will. Er guckt mich lange an und sagt dann: ›Nee, also wenn ihr hier im Wedding seid, ist das okay. Aber da mit Neukölln, nee, also das ist mir schon zu weit.‹«
Es gibt also doch ein lokales, um nicht zu sagen: lokalpatriotisches Publikum. Zumindest einen echten Weddinger.
6. April, 20 Uhr, Heimathafen Neukölln: Die große Jubiläumsshow mit Texten und Liedern, Bildern und Videos. Das Beste aus zehn Jahren Lesebühnenschaffen
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