Nur eine deutsche Kartoffel

Akkreditierung von Medien beim NSU-Prozess

  • Martin Lejeune
  • Lesedauer: 4 Min.

Ich gestehe, auch wenn es wenig glamourös klingt: Ich wurde in Hannover geboren. Auch gebe ich zu: Ich hatte nie eine andere Staatsangehörigkeit als die deutsche. Auch meine Eltern und Großeltern hatten immer nur die deutsche Staatsangehörigkeit. Ich bin leider trotz meines französisch klingenden Familiennamens durch und durch deutsch. Ich beherrsche wie Harald Schmidt auch nur ein gebrochenes Schulfranzösisch. Ich bin Hugenotte, doch zu meinem Bedauern kein Franzose, wie es meine Vorfahren waren, bevor sie im 17. Jahrhundert nach Berlin flohen.

Es gibt nichts, wovon Deutschland innerhalb seiner Grenzen mehr profitiert als von seinen Mitbürgern anderer Herkunft. Das war schon im 18. Jahrhundert so, als Friedrich der Große für den Bau des Parks Sanssouci die Hugenotten brauchte (nur die Hugenotten wussten die purpurfarbenen Stoffe für die Wände im Neuen Palais zu weben). Was würden die Deutschen heute machen ohne die türkischen Molekulargenetiker an deutschen Universitäten, persischen Chefärzten an deutschen Kliniken? Was wäre Hamburg ohne italienische Architekten, Wolfsburg ohne tunesische Ingenieure? Nicht zu vergessen die zahllosen französischen Bäcker, polnischen Gesundheits- und Krankenpfleger und die meisterhaften türkischen Coiffeure in jeder größeren Stadt Deutschlands. Die Aufzählung ließe sich endlos weiterführen. Deutschland wäre schon längst abgeschafft ohne diese Gruppen. Die Zugewanderten und ihre Nachfahren sind es, die dieses Land funktionsfähig erhalten, unter ihnen auch die Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds.

Das inzwischen mehr als drei Jahrhunderte währende Wirken meiner hugenottischen Vorfahren erst in Brandenburg-Preußen, dann im Königreich Preußen, anschließend im Deutschen Reich und schließlich in der Bundesrepublik Deutschland war auch scheußlicher und menschenverachtender Art. Nicht nur, weil mein Urgroßvater Erzieher des letzten deutschen Kronprinzen war (ältester Sohn von Wilhelm II.). Weitaus schlimmer wiegt, dass mein Großvater mütterlicherseits bei der Geheimen Staatspolizei und später auch bei der Waffen-SS Dienst versah (ausgerechnet in Paris) und mein Großvater väterlicherseits als Soldat der Wehrmacht Russland überfiel. Auf jeden Fall kam es über die Jahrhunderte zu unserer totalen Assimilation

Jeden Morgen, wenn ich im piefigen grauen Berlin erwache, beginnen meine Tagträume, was wohl passiert wäre, wenn uns die Katholiken in Frankreich nicht verfolgt hätten und meine Vorfahren in Paris hätten bleiben können. Nicht nur hätten wir dann später keine Juden in Deutschland verfolgen können. Auch würde ich heute meine Abende statt im Ambrosius in Neukölln im Café Départ im Quartier Latin verbringen. Ich würde Brioche statt Pumpernickel essen, Muton Rothschild statt Berliner Kindl trinken, Edith Piaf statt Andrea Berg hören, vielleicht sogar Couture statt Takko tragen. Ach, was gäbe ich heute dafür, Franzose zu sein. Stattdessen bin ich eine deutsche Kartoffel.

Seit das Oberlandesgericht (OLG) München aber bekanntgab, welche 50 Journalisten einen Platz beim NSU-Prozess haben, bin ich Europäer. Wofür Helmut Kohl Jahrzehnte brauchte, gelang mir über Nacht. »Das Vorgehen des Gerichts bei der Akkreditierungsvergabe für den NSU-Prozess löste europaweit Empörung aus«, titelt die »Süddeutsche Zeitung« (SZ) in ihrer Ausgabe vom 28./29. März. Anlass für den Artikel ist die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der ausländischen Medien, erst recht aus Ländern mit Betroffenen, die dem Prozess beiwohnen wollen, diesem nicht beiwohnen können, weil es nur 50 Plätze gibt, diese nach dem sogenannten Windhundprinzip vergeben wurden und die meisten ausländischen Medien zu langsam reagierten.

Neben dem Artikel befindet sich eine große SZ-Grafik mit zwei Listen. Die eine Liste zeigt die »akkreditierten Medien mit reservierten Sitzplätzen«, die andere Liste jene »ohne Sitzplatzreservierung«. In der Liste der »akkreditierten Medien mit reservierten Sitzplätzen« sind alle Namen bis auf drei grau und ohne Markierung gesetzt. Nur die drei Medien aus »Europa« sind blau und ihre Namen zudem fett formatiert. Darunter zu Recht »Niederlande Dagbald und De Telegraf« sowie »Radio Télévision Luxembourg«, zu Unrecht »Martin Le Jeune«, den es gar nicht gibt. Denn das Gericht hat meinen Namen falsch geschrieben.

Es gibt nun aber tatsächlich einen »europäischen« Journalisten Martin Le Jeune, der auf der Internetseite des »Guardian« eine Kolumne mit Foto von sich hat. Dieser Martin Le Jeune in London wurde offenbar von der SZ als der freie Journalist mit Platz im Gerichtssaal gehalten. Oder hat die SZ vielleicht gar nicht Google bemüht und geht bei einem französisch klingenden Namen ungeprüft davon aus, dass dieser Medienvertreter zu »Europa« gehören muss?

Ich werde ausschließlich auf meinem Blog vom Prozess berichten können. Eine Notlösung, um eventuell einen Teil der Fahrtkosten wieder hereinzubekommen, bleibt: Mich an den Prozesstagen als Tagelöhner jeden Morgen vor den Schwurgerichtssaal zu stellen mit einem Schild: Gerichtsreporter sucht Abnehmer für seinen Bericht. Oder der echte Martin Le Jeune behält seinen Platz 31. Eigentlich ist es ja auch seiner. Denn seit Jean Baudrillards Werk »Agonie des Realen« wissen wir, dass das wahr ist, was in der Zeitung steht.

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