Flüchtlingsparadies Türkei?

Bernd Mesovic ist stellvertretender Geschäftsführer von Pro Asyl

  • Lesedauer: 3 Min.

nd: Das türkische Parlament hat erstmals ein Asylgesetz beschlossen. Was halten Sie davon?
Mesovic: Man muss sich den Gesetzentwurf erst einmal im Detail ansehen. Wichtig ist insbesondere die Frage, ob und inwieweit Rechtsschutz und Verfahrensgarantien für die einzelnen Asylsuchenden enthalten sind. Asylgesetze dürfen nicht Dekrete sein, sondern müssen Rechtswege eröffnen.

Wie sind die Türken bisher mit Schutzsuchenden verfahren?
Die Türkei versteht sich als Erstaufnahme- und Durchgangsland für Flüchtlinge, das ihnen nur übergangsweise Schutz gewährt. Ankara hat die Genfer Flüchtlingskonvention zwar unterzeichnet, die Anwendung aber auf Flüchtlinge aus Europa beschränkt. Nicht-europäische Flüchtlinge erhalten nur solange einen Aufenthalt, bis das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) das Schutzgesuch geprüft hat. Gibt es eine Anerkennung, sucht UNHCR nach einem Aufnahmeplatz.

Seit rund zwei Jahren tobt in Syrien ein Bürgerkrieg. Wie haben sich die Kämpfe auf die Situation der Flüchtlinge nördlich der syrischen Grenze ausgewirkt?
Die Türkei ist eine Art Frontstaat in diesem Konflikt. Relativ großzügig hat Ankara in den vergangenen Jahren syrische Schutzsuchende aufgenommen. Zur Zeit halten sich etwa 300 000 Syrer dort auf. Eine Entscheidung über den Flüchtlingsstatus dieser Menschen wurde bisher nicht getroffen. Sie wurden praktisch in der Türkei geparkt. Das ist im dritten Jahr des Krieges nicht mehr angemessen. Deshalb wäre zu hoffen, dass die Entscheidung Ankaras ein Interesse ausdrückt, eine rechtliche Grundlage für diese Personen zu schaffen, die ihnen eine Lebensplanung ermöglicht.

Neben Syrien gibt es noch andere Krisenländer in unmittelbarer Nachbarschaft der Türkei. Zum Beispiel Irak.
Der Weg über die Türkei nach Griechenland und damit in die EU ist eine der Hauptrouten für Flüchtlinge. Auch deshalb, weil die Flucht nach Europa über das Mittelmeer durch die Unruhen in Nordafrika versperrt ist. Schutzsuchende aus dem Mittleren und Nahen Osten, vor allem aus Afghanistan, Iran und Irak, aber auch aus Somalia und Eritrea, suchen in der Türkei Zuflucht.

Die EU tut viel, um Flüchtlinge an ihren Außengrenzen fernzuhalten. Versucht sie auch, Einfluss auf die Asylpolitik der Türkei zu nehmen?
Brüssel übt seit Jahren Druck auf Ankara aus, diese Fluchtroute nach Europa zu schließen. Außerdem will die EU ein Übernahmeabkommen aushandeln. Schutzsuchende aus Drittstaaten, die über die Türkei in die EU gekommen sind, sollen dorthin zurückgeschoben werden können. Die Türkei hat das klar gebunden an eine Entscheidung über die Visafreiheit ihrer eigenen Staatsbürger für Einreisen in die EU.

Steht das nun beschlossene Asylgesetz in einem Zusammenhang mit den anhaltenden Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei?
Die Türkei wird sicherlich weiterhin von der EU erwarten, dass sie nicht mit der Erst- und Daueraufnahme von Flüchtlingen allein gelassen wird. Und die Visafreiheit bleibt auf der Tagesordnung.

Fragen: Christian Klemm

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.