Opferfamilien verlangen Gehör
Nebenkläger im Münchner NSU-Prozess erwarten auch die Aufklärung von Ermittlungsfehlern
Der kleine Laden an der Trappentreustraße Nr. 4 liegt direkt an einer Bushaltestelle am Mittleren Ring, der Stadtautobahn von München. Eine wenig attraktive Ecke mit viel Verkehrslärm, Abgasen und Staub. Hier betrat am 15. Juni 2005 gegen 18 Uhr der Täter das Schlüsseldienst-Geschäft und erschoss Theodorus Boulgarides (41) mit drei Schüssen. Der Grieche war sofort tot. Das Geld in der Kasse blieb unberührt. Es war der Fall Nr. 7 in der Mordserie des »Nationalsozialistischen Untergrundes«(NSU).
München, Bad Schachener Straße Nr. 14. Ein Arbeiterviertel mit Sozialwohnungsblocks. Hier wurde am 29. August 2001 der türkische Gemüsehändler Habil Kilic (38) zwischen 10.35 und 10.50 Uhr in seinem Laden erschossen. Eine Kugel traf in seitlich am Kopf, der Tod trat noch am Tatort ein. Es war Mordfall Nr. 4 in der NSU-Serie.
Das Justizzentrum an der Nymphenburger Straße Nr. 16, in dem ab 17. April diese und andere Morde verhandelt werden, liegt nur 1500 Meter Luftlinie vom ehemaligen Laden Theodorus Boulgarides entfernt. Zum Prozessauftakt wird dort dann auch die Witwe des Opfers, Yvonne Boulgarides im Gerichtssaal sitzen, als eine der Nebenklägerinnen. Nur wenige Meter von der Hauptangeklagten Beate Zschäpe und den vier anderen Angeklagten entfernt.
Plötzlich ohne »Ernährer«
Es war nicht die Polizei, die Frau Boulgarides über den Tod ihres Mannes informierte. Das musste eine Verwandte übernehmen und am Telefon erfuhr die damals 14-jährige Tochter, dass ihr Vater ermordet worden war. Die Polizei verhörte am nächsten Tag Mutter und Tochter - getrennt. »Das hätte man aus Fürsorgepflicht nicht zulassen dürfen«, sagt Angelika Lex. Die Münchner Rechtsanwältin vertritt die Witwe vor Gericht: »Es geht in der Nebenklage auch darum, den Opfern und ihren Familien Gehör zu verschaffen und deren Betroffenheit und Verletzungen in den Prozess einzubringen.« Und Verletzungen gab es genug - von offizieller Seite. Jahrelang liefen die Ermittlungen der Polizei in Richtung Ausländer-Kriminalität und Rotlichtmilieu, in Richtung Rauschgift-Handel und Mafia. Das hatte auch Auswirkungen auf den Freundes- und Bekanntenkreis der Familie. Kontakte wurden abgebrochen. Die Zeugen jedoch, die Theodorus Boulgarides als freundlichen Menschen schilderten, der nie wegen Drogen oder Alkohol aufgefallen war, konnten sich keinen Grund für den Mord vorstellen. Der Vorwurf der Rechtsanwältin: »Die Polizei hat nie nach einem rassistischen Hintergrund gefragt.«
So wie bei Habil Kilic. Seine Witwe wird vor Gericht von Rechtsanwalt Bernd-Michael Manthey vertreten. Der schildert auch die soziale Situation der Opferfamilie. Plötzlich stand Ehefrau Pinar Kilic mit ihrer neunjährigen Tochter ohne »Ernährer« da, der Laden wurde von der Polizei versiegelt, das Gemüse verfaulte. Zum Tod des Ehemannes kamen noch die finanziellen Probleme wegen der ausstehenden Ladenmiete und Forderungen der Gemüsehändler. Am Schluss folgte der Gang zum Sozialamt. Heute ist die Witwe froh, nach längerem Rechtsstreit eine Rente der Berufsgenossenschaft zu beziehen. Sie ist neben Yvonne Boulgarides und den Töchtern der beiden Familien eine der insgesamt 71 Nebenkläger, die von 49 Rechtsanwälten vor Gericht vertreten werden.
Neonazis um die Ecke
Das Justizzentrum an der Nymphenburgerstraße ist ein typischer Bau der 1970er Jahre: Viel Beton. Im Gerichtssaal A 101, dem größten in München, werden die Angehörigen der Opfer den Angeklagten gegenüber sitzen und noch einmal unmittelbar mit dem schrecklichen Geschehen konfrontiert werden. Die Rechtsanwälte haben für die Nebenkläger eine psychologische Betreuung organisiert, auch, dass ihnen in den Verhandlungspausen ein eigener Raum zur Verfügung steht. »Wir wollen verhindern, dass unsere Mandantin möglicherweise auf Neonazis aus dem Publikum trifft«, erläutert Angelika Lex. Und kommt noch einmal auf das Anliegen ihres Mandats zu sprechen: »Wir gehen davon aus, dass die Täter auf lokale Netzwerke zu ihrer Unterstützung zurückgreifen konnten.« Das solle vor Gericht zur Sprache kommen, sei hier doch ein »großes Loch« bei den Ermittlungen vorhanden. Dazu gehört auch die Frage, wie denn die Opfer von den Tätern ausgesucht wurden. »Es liegt auf der Hand, dass es da Zusammenhänge mit Neonazis vor Ort geben muss«, sagt die Rechtsanwältin.
In der Tat liegen Zusammenhänge vor, örtliche zum Beispiel. München, Landsberger Straße Nr. 106. Die Kreuzung zum Mittleren Ring liegt nur ein paar Fußschritte entfernt, von hier aus kann man sogar hinübersehen zum Haus Nr. 4 in der Trappentreustraße. Die Landsbergerstraße 106 war im Jahr 2003 die Adresse einer Wohngemeinschaft, in der Martin Wiese, Alexander Maetzing und Ramona Schenk lebten. Wiese wird 2005 wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung und zahlreicher Verstöße gegen das Kriegswaffenkontroll- und Waffengesetz zu sieben Jahren Haft, Maetzing zu fünf Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Die 20-jährige Ramona Schenk wird zu einer Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt. Der damals 28-jährige Wiese war Anführer der neonazistischen Gruppe »Kameradschaft Süd«, die laut Anklageschrift mit Waffengewalt ein »nationalsozialistisch geprägtes Herrschaftssystem« errichten wollte. Für das Handgreifliche war eine »Schutztruppe« zuständig, die Wehrsportübungen in einem Wald bei München durchführte. Um derlei Dinge ging es in der Landsbergerstraße 106.
400 Meter oder ein paar Gehminuten entfernt vom Tatort in der Bad Schachener Straße liegt das Wirtshaus »Zum Glaskasten« in der Aschheimer Straße Nr. 15. Will man zum Beispiel von der nächsten U-Bahn-Station zu dieser Kneipe, kam man an dem Gemüseladen von Habil Kilic vorbei. Der »Glaskasten« war bekannt als Treff von Neonazis. Hier traf man sich zum »Liederabend« des »Nationalen Widerstands Oberbayern« und hängte gerne Reichskriegsflaggen an die Wand.
77 Nebenkläger
Es gebe ein »breites öffentliches Interesse, eine umfassende Aufklärung der himmelschreienden Ermittlungsfehler« und der »schockierenden Verstrickungen« von Institutionen einzufordern, hieß es bei der Pressekonferenz des Bündnisses »Gegen Naziterror und Rassismus« vor der heutigen Großdemonstration in München. Dort soll auch als einzige Angehörige der Opfer Yvonne Boulgaridis sprechen. Aufklärung über Netzwerke der Neonazis, das ist auch eines ihrer Anliegen als Nebenklägerin. Gestern gab das Gericht bekannt, dass sich die Zahl der Nebenkläger nochmals erhöht hat. Insgesamt 77 Angehörige und Betroffene sind nun angemeldet, die von 53 Anwälten vertreten werden.
Ob das Gerichtsverfahren freilich Licht in Ermittlungspannen und in diese Netzwerke von Neonazis bringen wird, ist fraglich. Das meint jedenfalls Karl Huber, Präsident des Oberlandesgerichtes München, an dem das Verfahren anhängig ist: »Ich frage mich, ob dieser Prozess das leisten kann.« Gehe es doch vorrangig darum, die Schuld oder Teilschuld der Angeklagten festzustellen. Dafür wird das Gericht dreimal pro Woche ein Jahr lang tagen.
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