Angst vor Organisation
S 21-Gegner diskutieren, wie sie Stuttgart bürgernah gestalten können, und verlieren dabei eines: Bürger
Ein BürgerInnenparlament für Stuttgart - das ist das Ziel einer kleinen Truppe in der baden-württembergischen Landeshauptstadt. Antrieb ist die Enttäuschung über den Gemeinderat. Der habe zu oft nicht im Sinne der Bürger entschieden, meinen die Aktivisten, die sämtlich aus dem Stuttgart-21-Widerstand kommen. Ihre Lösung: ein Gremium, in dem parteiunabhängige, am Gemeinwohl orientierte Menschen für die Stadt arbeiten. Nun lud die Gruppe zum zweiten Mal ein, um über das BürgerInnenparlament zu diskutieren.
Etwa 50 Interessierte waren der Einladung gefolgt, deutlich weniger als die 120 beim ersten Treffen im Januar. Eigentlich sollte es um eine wichtige Frage gehen: die Legitimation eines solchen Alternativparlaments, doch zur Sprache kam dieses Thema nur am Rande. Schließlich war so viel anderes zu besprechen. An mehreren Tischen konnte diskutiert werden über »Ich bin, also bin ich legitimiert«, »Angst vor der Macht«, »Wie werden Entscheidungen eines BürgerInnenparlaments umgesetzt?«, »Repräsentative Demokratie - warum funktioniert die nicht«. Alle halbe Stunde war Wechsel angesagt, damit jede und jeder über alles reden konnte. Heraus kamen Aussagen wie: »Ich muss mich entscheiden, Entscheidungen treffen zu wollen«, »Beschlüsse des Parlaments können nur mit Aktionen und Kampagnen umgesetzt werden. Rechtliche Bestimmungen oder Abstimmungen bringen nichts«, »Marktwirtschaft ist etwas anderes als Kapitalismus und kann vernünftig gestaltet werden«, »Parteienfinanzierung ändern«. Auf gezielte Gesprächsleitungen wurde an den Tischen größtenteils verzichtet.
Für die meisten Anwesenden sind Parteien und ihre Politiker der Inbegriff des Schlechten. Parteien ließen sich von der Wirtschaft lenken, die nur auf Profit aus sei und nicht aufs Allgemeinwohl. Im BürgerInnenparlament dürften also keine Parteien sein, nur Bürger. Wer aber ist Bürger? Wie kommt ein Bürger, eine Bürgerin in diese Vertretung? Und wie werden dort Entscheidungen getroffen: nach Mehrheitsprinzip, nach Konsens? Und was dann? Wie kommt die Entscheidung in den Gemeinderat (der nicht abgeschafft werden, sondern das BürgerInnenparlament zur Seite bekommen soll)? Das wären spannende Fragen gewesen, doch darüber wurde nicht diskutiert. »Das machen wir beim nächsten Mal«, erklärte Peter Gruber vom Organisationsteam. Dem IT-Fachmann ist klar, »dass die Beteiligung heute kein BürgerInnenparlament legitimiert. Aber wir wollen uns auf den Weg machen.«
Die Sozialwissenschaftlerin Angelika Vetter von der Universität Stuttgart hält generell nicht viel von der Idee. »Wir haben schon ein Bürgerparlament: den Gemeinderat«, sagt die Dekanin, die unter anderem zur Kommunalpolitik forscht. Der Vorwurf, der Gemeinderat würde nicht auf die Bürger hören, sei falsch. »Die Fraktionen im Gemeinderat spiegeln die Interessen der Bürger wider.« Hinter der Unzufriedenheit mit Parlamenten sieht sie eine Unkenntnis über die Abläufe, wie politische Entscheidungen zustande kommen. Dazu komme der »Grundwunsch vieler Menschen, nach einem harmoniegeleiteten Miteinander, auch in der Politik«. Das blendet jedoch aus, betont Vetter, dass es unterschiedliche Interessen in der Gesellschaft gibt. Diese müssten ausgetragen werden, auch im Konflikt. »Also streiten die Parteien, was wiederum von vielen als unangenehm empfunden wird.« Die Sozialwissenschaftlerin bestreitet nicht, dass Parteien durch Skandale und verkrustete Strukturen ihr schlechtes Image auch selbst zu verantworten hätten. »Aber man kommt nicht um Strukturen und Organisationen herum, wenn man Politik machen will.«
Genau dies allerdings scheinen die Diskutanten im Stuttgarter Rathaus strikt vermeiden zu wollen. Mehrfach wird bewundernd von Beppe Grillo gesprochen. Dessen radikal parteienfeindliche Fünf-Sterne-Bewegung ist jüngst aus dem Stand zur stärksten Fraktion im italienischen Parlament gewählt geworden. In einem Fernsehinterview, dass sich die Diskutanten im Stuttgarter Rathaus anschauten, erklärt der populistische Politiker: »Wir sind keine politische Bewegung, wir sind ein neues Konzept von Gesellschaft.« Das kam gut an.
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