Eventcocktails mit Passionsfruchtstückchen

Harry Rowohlt & Klaus Bittermann lesen »Kreuzberger Szenen«

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 5 Min.

Wenn Klaus Bittermann, linker Autor und Verleger, der »Doyen der Kreuzberger Literatur«, wie ihn die »Süddeutsche Zeitung« respektvoll nennt, durch den Berliner »Graefekiez« flaniert, in dem er seit mehr als dreißig Jahren ansässig ist, erkennt man ihn auch daran, dass er einer der wenigen bekennenden brillenlosen Hutträger in Kreuzberg ist. Die Bevölkerungsmehrheit dort bildet nämlich inzwischen die rasch wachsende Gruppe der jung-dynamischen, fest mit ihrem Smartphone verwachsenen Mützen- und Designkassengestellbrillenträger.

Die einstige Armeleute- und Autonomenmeile Kreuzberg hat sich drastisch verändert in den vergangenen zwanzig Jahren, und in den letzten drei bis vier Jahren verläuft die Entwicklung rasanter denn je: Wo zuvor noch glückliche Arbeitslose und andere Spätaufsteher entspannt ihr Frühstücksbier genießen durften und die Bohème an Café-Tischen sitzend träge in die Abendsonne blinzelte, ziehen heute die Späher der Immobilienfirmen in Scharen durch die Straßen, um irgendwo vielleicht noch eine unentdeckte Hütte zu finden, in der man zur Not noch eine Werbeagentur oder eine Konzernzentrale von Siemens oder BMW unterbringen kann. Und die Touristen aus aller Welt treten sich derweil gegenseitig auf die Füße und verstopfen den Bürgersteig.

In den Eckkneipen, die heute natürlich »Event Locations« heißen, gibt es keine »Molle mit Korn« mehr, sondern Aperol Spritz und grellfarben leuchtende Eventcocktails mit Passionsfruchtstückchen aus kontrolliert biologischem Anbau. Getränke also, die der Berliner nicht versteht.

Man nennt es Fortschritt. Und über diesen und dessen Folgen in seiner Nachbarschaft schreibt Klaus Bittermann seine kleinen Alltagsgeschichten. Und das Schöne ist: Er kann weder die Immobilienheinis und Touristen besonders leiden noch die alteingesessenen Stulleberliner. Denn eines haben alle gemeinsam: Sie sprechen laut in Mobiltelefone und erweisen sich auch sonst als eher unangenehme Zeitgenossen. Bittermann aber möchte vor allem eins: in Ruhe gelassen werden. Was schließlich auch sein gutes Recht ist als jemand, der in den frühen Achtzigern nach Kreuzberg zog, als jeder und jede einzelne in Westberlin in Ruhe gelassen werden wollte. Das war ja für viele der Grund, hierherzuziehen: Man hatte Ruhe. Ruhe vorm Staat, vor der Bundeswehr, vor dem Ostzonenbewohner, vor den schwäbischen Kleinbürgereltern und vor dem sehr umtriebigen »Tagesspiegel«-Kolumnisten Harald Martenstein, mit dem sich Bittermann jetzt im Graefekiez herumschlagen muss.

Spätestens seit der Maueröffnung aber gelten der Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, und schlechte Laune als altmodisch. Immerzu soll man sich seither als Wohlfühlgemeinschaft wähnen und möglichst hauptstädtisch gebärden. Umso erfreulicher ist, dass Bittermann sich davon anscheinend bislang nicht beeindrucken lässt: In seinem Verlag Edition Tiamat publiziert er deshalb mit schöner Regelmäßigkeit bevorzugt die Schriften von Nörglern, Schwarzsehern und Querulanten, unter anderem etwa die Glossen von Mathias Wedel oder Wiglaf Droste oder die Texte des US-amerikanischen Reportagejournalisten Hunter S. Thompson.

Im Graefekiez, »in dem jeder Zweite die Grünen wählt« und wo der mittlerweile 61-jährige Verleger bevorzugt umherschweift, macht er allerlei Beobachtungen und notiert sie regelmäßig für die kleine Rubrik »Berliner Szenen« der Tageszeitung »taz«. Viele dieser knappen und beiläufig verfassten Prosaskizzen sind nun in einem Buch versammelt, das den überzeugenden Titel »Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol« trägt.

Bittermann erzählt uns darin vom allmählichen Verschwinden der Gestrauchelten und der Trinker, die nach und nach von der Gentrifizierung verdrängt werden; von den Öko-Muttis und ihren Bälgern; von den bis unter die Schädeldecke mit Testosteron angefüllten »Goldkettchenjungs aus der U-18-Liga«, die mitunter Schwierigkeiten haben, ihre Tagesfreizeit zu füllen (»Willste auf Fresse? Ich mach dich Urban, ey!«); vom undurchdringlichen »Wall of Schnattersound« der auf der Admiralbrücke Campierenden, von dem man dort umgeben ist, sobald der erste Sonnenstrahl des Jahres die graue Wolkendecke über Berlin durchdringt, und von unfreiwillig mitgehörten Ehepaargesprächen in Arztwartezimmern: »›Der Arzt hat gesagt, wir dürfen keen Sex mehr haben.‹ Das sagt der Mann zu seiner Frau, aber auch die anderen lässt er großzügig an dieser Neuigkeit teilhaben. Die Frau sagt so laut, als müssten sich beide neben einem Presslufthammer verständigen: ›Wie? Keen Sex? (…) Ne, det halt ich nicht aus. Na, weeßte was? Dann machen wir halt n bisschen langsamer, wa, Schatz?‹«. Eine bahnbrechende Unterhaltung, die wohl gewiss für immer auf dem Schutthaufen der Geschichte gelandet wäre, wenn nicht einer wie Bittermann sie notiert und verdienstvollerweise vor dem allzu raschen Vergessen bewahrt hätte.

In seinen dem Kreuzberger Alltag abgelauschten, komischen Prosaminiaturen, in die sich stets auch eine Spur Resignation mischt, klagt er nicht an und verfällt nicht in wehleidiges Jammern. Wen sollte er auch volljammern? Der Kapitalismus wird nicht auf ihn hören. Und für die Menschen, über die er spottet und von deren bizarrem Alltagsgebaren er uns berichtet, empfindet er dennoch so etwas wie Empathie. Oder Mitleid.

Im Vergleich zu der oft zwischen Käsigkeit und Larmoyanz angesiedelten Goldrandprosa, die uns als deutsche Gegenwartsliteratur angedreht wird, sind diese lakonischen Kiezgeschichten die reinste Erholung für den Leser. Und sie sind, wie das Leipziger Stadtmagazin »Kreuzer« es treffend formulierte, der »Schrift gewordene Beweis, dass, jeglicher Lehrmeinung und Lebenserfahrung zum Trotz, Linke offenbar doch humorbegabt sein können«.

Heute Abend liest der Autor gemeinsam mit dem Schriftsteller und Übersetzer Harry Rowohlt aus ihnen vor. Beide werden, wie es in der Einladung zu der »Lesung mit Abschweifungen« heißt, »abwechselnd mit Betonung und rhythmisch« vorlesen. Wer je das Glück hatte, schon einmal dem begnadeten Rezitator Harry Rowohlt bei einer seiner rund drei- bis sechsstündigen Bühnenperformances beiwohnen zu dürfen, weiß, was auf ihn zukommt: eine Naturgewalt.

Klaus Bittermann: Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol. Kreuzberger Szenen. Suhrkamp, 164 Seiten, 8,99 Euro.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -