Morgen ist ein neuer Tag
Abstrakte Gefahren lauern überall. Theoretisch ist die Gefahr stetiger Begleiter. Wenn ein Ministerium so tut, als sei die Gefahr für die Allgemeinheit etwas, was nicht üblich sei, dann hat es das Wesen der Menschheit nicht begriffen. Verräterisch ist dabei das Wörtchen „weiterhin“. Es suggeriert hier, als habe es menschliche Gesellschaft auch mal ohne etwaiges abstraktes Gefahrenpotenzial gegeben. Mit „intellektuellen Niedergang“ alleine kann man dergleichen Statements nicht erklären.
Das ganze menschliche Leben ist eine abstrakte Gefahr. Sie taugt daher kaum als Gegenstand von ministeriellen Meldungen. Sie ist einfach nur Normalität und insofern nicht nennenswert. Sätze wie „Morgen ist ein neuer Tag!“ oder „So jung kommen wir nicht mehr zusammen!“ haben in etwa denselben informativen Charakter wie dieser Beschwichtigungsversuch mit abstrakter Anschlagsgefahr.
Wenn ich morgen am Frankfurter Bahnhof bin, ist die Anschlagsgefahr so abstrakt gegenwärtig, wie die Gefahr überfallen zu werden. Es herrscht überdies eine abstrakte Gefahr, mich übermorgen mit HIV zu infizieren oder bei einer Demonstration einen Polizeiknüppel an den Kopf zu kriegen. Die individuelle und allgemeine Gefahr gehört zur Gesellschaft. Sartre meinte, die Hölle seien die anderen. Eine Erkenntnis, die die abstrakte Gefahr beinhaltet.
Wie eine Gesellschaft mit diesem Abstraktum umgeht, ob sie es erträgt und als Herausforderung sieht oder mit Donquichotterie dagegen vorgeht, das ist schon weitaus inhaltsreicher. Letzteres war das Prinzip des letzten Jahrzehnts. Man glaubte, man könne diese beständige Gefahr mittels Einschränkung von Freiheits- und Bürgerrechten bannen. Der Anschlag in Boston zeigt, dass nicht mal Kontrolle, Überwachung und Beschränkungen, kein PATRIOT-Act der Welt die Gefahr aufheben kann. Selbst eine hysterisch verängstigte Gesellschaft, die ihre Terrorangst irgendwelchen Sicherheitspolitikern vor die Füße wirft, sensibilisiert sich die Anschlagsgefahr nicht einfach weg.
Solange man sich Gewalt denken kann, wird es eine undefinierbare Gefahr geben. Also immer. Das liegt auch daran, dass ich (oder wer auch immer!) mich in einer freiheitlichen Grundordnung auch dafür entscheiden könnte, einen solchen Gewaltakt anzuwenden. Die Überlegung der hiesigen Sicherheitspolitik ist nun, dass man diese freie Entscheidung abwendete, wenn man die Aspekte der freiheitlichen Grundordnung einengt. Die abstrakte Gefahr als immer noch latent zu bezeichnen ist also nicht nur intellektueller Niedergang – es ist auch ein akutes Anzeichen für das Borderline-Syndrom der modernen Demokratien, die sich um ihrer Freiheit willen selbst unfreier gestalten möchten. Da wirft man dann wieder die bekannten Heilmittel in die Diskussion: Mehr Kameras an öffentlichen Plätzen, Vorratsdatenspeicherung und der allgemeine Aufruf zur Wachsamkeit im Alltag, zur StaSisierung des restdemokratischen Konzepts.
Mit der Alltäglichkeit abstrakter Gefahr hausieren zu gehen, klingt nach schmackhaften Ausblick auf ein Idyll, klingt wie: Eine Welt ohne Gefahren wäre möglich! Wir müssen es nur wollen, müssen nur bereit sein, uns besser über- und bewachen zu lassen, dürfen nicht zu sehr an Freiheiten kleben und einfach nur den Lösungsvorschlägen der Sicherheitspolitik folgen. Wenn wir nur dazu bereit sind, dann gibt es weder abstrakte noch konkrete Gefahr. Die gibt es konkret lediglich nach Terrorakten für bürgerliche Freiheitsrechte.
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