Hoffentlich ist es ein Weißer
Ein Aufatmen ging gestern Abend durch die Twitter-Feeds und Facebook-Posts vieler meiner virtuellen muslimischen Freunde. Das FBI veröffentlichte Fotos mutmaßlicher Attentäter von Boston. Zu sehen waren glücklicherweise weder Turban, noch Vollbärte. Die Männer auf den Fotos sahen aus wie gewöhnliche weiße Amerikaner.
Für die Toten und Verwundeten, die am Montagnachmittag in Boston von Metallsplittern durchbohrt wurden, spielt es vermutlich kaum eine Rolle, zu welchem Gott ihr Mörder betet oder welche Hautfarbe er hat. Für die Anzahl der Opfer, die noch folgen könnten, hingegen schon. Denn es gibt einen gewichtigen Unterschied im medialen, politischen und öffentlichen Umgang mit den verschiedenen Tätergattungen: Ist ein weißer amerikanischer Terrorist für den Anschlag verantwortlich, ist ein weißer amerikanischer Terrorist für den Anschlag verantwortlich. Zündete hingegen ein Islamist die Bombe, werden Millionen Muslime dies zu spüren bekommen.
Dabei spielt es keine Rolle, wie viele muslimische Fanatiker oder rechtsextreme Hillbillys tatsächlich hinter den Morden stecken. Der Narrativ funktioniert: Selbst eine Gruppe womöglich rechtsextremer weißer Attentäter bleibt in der medialen Darstellung genau das. Namen und Anzahl der Schuldigen werden genannt, Prozesse geführt, die Sache irgendwann vergessen werden. Niemand käme auf die Idee, Christen oder gar weiße Männer in Zukunft in Kollektivhaftung zu nehmen. Auf der anderen Seite reicht selbst ein Attentäter, der vielleicht nur zufällig muslimischen Glaubens ist, aus, um den ganzen Trott aus Vorurteilen und Verschwörungstheorien in Gang zu setzen: Nicht ein Einzelner aus Boston ist schuld, sondern »der Islam«, gewalttätige Barbaren, Muslime, die einmal mehr der »zivilisierten Welt« den Krieg erklären.
Opfer der Geschichte werden dann einmal mehr jene Menschen muslimischen Glaubens sein, die zwar nie auf die Idee kommen würden mit Schwarzpulver und Nägeln gefüllte Schnellkochtöpfe in Menschenmengen zur Explosion zu bringen, aber eben das Pech haben, in unser Feindbildschema zu passen: Der bärtige Typ an der Ampel, die kopftuchtragende Supermarkt-Kassiererin, das Mädchen, das von ihren Eltern Fatima genannt wurde. Im schlimmsten Fall werden weitere Menschen sterben: Nicht nur weil rassistische Amerikaner in Vergeltung Muslime (oder wen sie dafür halten) vor fahrende U-Bahnen stoßen. Viele werden sterben, wenn der Attentäter Kontakte in den Jemen, nach Somalia oder ein anderes jener Länder hatte, in dem amerikanische Strafverfolgung mittels Predator-Drohnen und Cruise-Missiles statt mit Gerichtsverhandlungen vollzogen wird.
Deshalb die Bitte: Lass es einen weißen Rechtsextremen gewesen sein. Drohnen der US-Army fliegen nicht nach South Dakota. Auch die Vorratsdatenspeicherung lässt sich nicht mit Verweis auf amerikanische Waffennarren einführen. Von mir aus einer dieser Verrückten, der dadurch die Aufmerksamkeit irgendeines Hollywood-Stars auf sich ziehen will. Ein übriggebliebener IRA-Kämpfer. Niemand bombardiert Dublin. Und wenn es doch ein Muslim war: versteck dich gut, rasiere dir den Bart, konvertiere! Drei Menschen wurden getötet, Dutzende verletzt. Es sollen nicht noch mehr werden.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!