»Börsenwerte sind doch nur heiße Luft«
Von wegen Casino! Aufklärung über populäre Krisen-Irrtümer - Teil 11 der nd-Serie
Nicht erst seit der Finanzkrise stehen Banken und Finanzmärkte im Fokus der politischen Debatte – und am Pranger. Nun sollen die Banken zahlen, fordern die einen. Das sei eine große Gefahr, warnen die anderen. Denn vom Wohl der Banken hänge die ganze Wirtschaft ab. Wer hat recht? Sind Banker wirklich gierig? Und woher kommt die Abhängigkeit von den ominösen „Märkten“? Ein Autorenkollektiv der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat sich die gängigen Irrtümer über Banken, Börse und Kredit vorgenommen - und zeigt, dass nicht allein von Macht und Größe der Finanzmärkte alle Übel des Kapitalismus ausgehen. Klarheit statt Mythen: hier täglich in einer nd-Reihe.
»Börsenwerte sind doch nur heiße Luft«
Was gesagt wird:
Die Börsenkurse schwanken wie wild auf und ab. Der Wert der weltweit gehandelten Aktien betrug Anfang Mai 2011 rund 56 Billionen US-Dollar, fünf Monat später nur noch 42 Billionen – 14 Billionen Dollar waren einfach verschwunden. In der US-Hypothekenkrise lösten sich Milliarden an spekulativen Werten einfach auf. 2010 reichten Gerüchte über Finanzschwierigkeiten Griechenlands, um griechische Staatsanleihen abstürzen zu lassen. Was an der Börse gehandelt wird, ist also gar nicht real. Aktien, Anleihen, vor allem aber Derivate sind bloß «Scheine zur anteiligen Belohnung des richtigen Erratens von Aussichten auf bevorstehende wirtschaftliche Ereignisse». Die Spekulation hat sich von der wirklichen Wirtschaft abgekoppelt. «Es hat sich ein Geldmarkt mit Finanzprodukten entwickelt, der gar nichts Reales produziert. […] Der irreale Finanzmarkt steuert die realen Märkte.»
Was dran ist:
Es stimmt, die Finanzmärkte vollziehen ihre eigenen Bewegungen. Beispiel Aktie: Wenn ein Unternehmen Aktien ausgibt, erhält es das Geld des Aktionärs und der Aktionär die Aktie. Diese Aktie wird anschließend an der Börse gehandelt. Aber:
1. Der Aktienkurs bewegt sich nicht parallel zur Gewinnentwicklung des Unternehmens. Wenn der Gewinn eines Unternehmens um 10 Prozent steigt, bedeutet das nicht, dass auch der Aktienkurs des Unternehmens um 10 Prozent steigt. Die Börse vollzieht nicht einfach die Bewegungen der Realwirtschaft nach, sondern versucht, sie vorwegzunehmen. Es reicht, dass erwartet wird, der Gewinn des Unternehmens steige, um die Aktie steigen zu lassen. Wird der erwartete Gewinn dann nicht erzielt, stürzt der Aktienkurs wieder ab.
2. Hier geht es also um Erwartungen, und zwar um die eigenen und die der anderen.30 Denn letztlich beziehen sich die Finanzanleger alle aufeinander. So kauft ein Anleger eine Aktie, weil er erwartet, dass die anderen Anleger in Zukunft erwarten werden, dass der Aktienkurs steigt, sie die Aktie deswegen ebenfalls kaufen und so der Aktienkurs tatsächlich steigt. Der Börsenhandel ist ein ewiger Zirkel: Alle Anleger beobachten sich gegenseitig und versuchen herauszufinden, was die anderen jeweils erwarten werden. In diesem Spiel sind die «harten Wirtschaftsdaten» (Wirtschaftswachstum, Gewinnentwicklung) für die so Spekulierenden nur ein Indikator dafür, wohin sich die Erwartungen der anderen bewegen werden. Insofern sind die Finanzmärkte von der Realwirtschaft entkoppelt – und hängen doch an ihren Konjunkturen. Denn ohne profitable Unternehmen keine Kurssteigerungen.
Bei Derivaten geht die Emanzipation der Finanzmärkte von der Realwirtschaft noch weiter. Denn anders als bei Anleihen oder Aktien fließt beim Verkauf von Derivaten kein Geld an Unternehmen oder Staaten. Derivate sind reine Finanzwetten. So kann man beispielsweise mit einem Index-Zertifikat auf die Entwicklung eines Aktienindex setzen, also auf die Entwicklung an den Finanzmärkten. Letztlich allerdings sind Derivate auch nicht «spekulativer» als Aktien, auch wenn ihre Preise stärker schwanken. Auch sie sind ein Anrecht auf Zahlung, auch ihr Preis hängt ab von Erwartungen, auch bei ihnen dienen die harten Wirtschaftsdaten den Anlegern als Indikatoren für die Richtung, in die sich die Erwartungen bewegen werden.
3. Das Auf und Ab der Wertpapiere produziert Gewinne und Verluste. Zum großen Teil handelt es sich dabei zwar nur um Zahlen in den Büchern der Anleger. «Irreal» sind diese Werte aber nicht. Wären sie nicht real, so wäre es auch kein Problem, wenn sie sich auf einmal in Luft auflösen würden. Vielmehr sind sie spekulativ. Was heißt das eigentlich? Was ist die «Substanz» der Finanzwerte, worin besteht ihr Wert?
Was Sparer auf ihren Konten, Anleger in ihren Aktiendepots und Banken auf ihrer Habenseite als Vermögen verbuchen, das sind nichts anderes als Schulden anderer. Der finanzielle Reichtum der Welt besteht aus Geldanlagen – Aktien, Anleihen, Lebensversicherungen, Sparguthaben –, also aus Zahlungsansprüchen, die so lange Wert haben, wie sie bedient werden. Werden sie nicht bedient oder kommen Zweifel am Schuldner auf, lösen sich die Werte in Luft auf, seien es US-Hypothekenpapiere oder griechische Staatsanleihen.
Der finanzielle Reichtum der Welt besteht also vor allem aus materialisierten Erwartungen, aus vorweggenommenen Renditen, die zwar erst in Zukunft anfallen, aber heute schon als Vermögen existieren. Er ist damit eine gigantische Spekulation auf künftige Erträge. Man kann es auch so ausdrücken: Als Wert gilt heute nicht so sehr das, was produziert worden ist, sondern das, was noch produziert werden soll.
Die Finanzmärkte repräsentieren also nicht «reale» Werte, sondern Ansprüche an künftiges Wachstum dieser Werte. Der Wert aller Finanzanlagen beruht auf dem Glauben, dass diese Ansprüche eingelöst werden können. Diese Werte sind daher extrem schwankend. Gleichzeitig sind sie der harte «Kern» des marktwirtschaftlichen Reichtums. Deswegen wird eine Finanzkrise auch stets – in Analogie zur Atomkraft – als «Kernschmelze» umschrieben.
Die von einem Autorenkollektiv verfasste Broschüre »Von wegen Casino« ist in der Reihe »luxemburg argumente« erschienen und kann bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung bestellt werden.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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