Das andere Leben

»Wohin stürmst du, Russland?« - eine Podiumsdiskussion in Berlin

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.

Man stelle sich einen Diskussionsabend unter dem Titel »Wohin stürmst du, Deutschland« vor, sagte Ingo Schulze, Direktor der Sektion Literatur der Akademie der Künste. In Berlin hätten sich Leute mit so unterschiedlichen Positionen dazu gar nicht zusammen auf ein Podium gesetzt. Das muss man der Veranstaltungsreihe »Literatura - deutsch-russischer Dialog« vom 18. bis 20. April wohl insgesamt zugute halten: Die Organisatoren - Akademie und Bundeszentrale für politische Bildung - haben bezüglich der eingeladenen Autoren von vornherein auf Meinungsverschiedenheiten gesetzt. Das macht die Sache ja fürs Publikum gerade interessant.

Aber um den Gedanken von Ingo Schulze weiterzuführen: Man stelle sich eine Podiumsdiskussion »Wohin stürmst du, Deutschland?« mal an einem prominenten Ort in Moskau vor. Würde unsereins die Formulierung nicht als anmaßend empfinden, wenn in der Einladung ausdrücklich von »Protestbewegung« die Rede ist und die bange Frage formuliert wird, ob es um diese Proteste inzwischen still geworden sein könnte? Aber bezüglich Russland ist es in der hiesigen Medienöffentlichkeit wie abgemacht, dass eine Opposition - welche auch immer - zu hätscheln ist im Sinne von ... Was wohl?

Über die Bildschirme flackern immer wieder Aufnahmen von Demonstrationen an verschiedenen Orten der Welt. Demokratie, Freiheit würden die Leute fordern, heißt es, etwas, was der Westen für sich reklamiert und was man auch anderen Menschen gönnen möchte. Von Revolutionen ist die Rede (seit wann hat die Macht des Kapitals denn Revolutionen lieben gelernt?), dann von Rebellen, dann von westlicher Hilfe gegen das jeweilige Regime ... Humanitär, militärisch - bis Regierungen gestürzt sind, wogegen diese sich oft mit Gewalt wehren. Blutvergießen, bis das Chaos so groß wird, dass in destabilisierter Lage jeglicher äußere Einfluss möglich ist.

Demokratie, Freiheit, Menschenrechte: Ideale, die umso leuchtender unter repressiven Verhältnissen sind. Aber nur mit Druck und Gegendruck lassen sie sich nicht verwirklichen. Es braucht ein gewisses Maß an ökonomischer und politischer Stabilität, damit Staaten in ihren Machtmechanismen locker lassen. Bei Gefahr für die Macht kommen die Hardliner zum Zug.

Doch nun zurück zur Podiumsdiskussion am Donnerstagabend: Ob das, was wir durch die Medien erfahren, »das ganze Russland« beschreibt, diese rhetorische Frage stellte Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, in den Raum. Also wollte er noch anderes wissen und bekam auch noch anderes zu hören.

Wobei solche Debatten weniger analytisch sind, als man hofft. Erfahrungen, Meinungen prallen aufeinander, man muss sie sich selber zu einem Mosaik zusammenfügen. Was sich in Russland im letzten Jahr verändert habe, wollte der Slawistikprofessor Georg Witte als Gesprächsleiter wissen. Es sei auf jeden Fall nicht langweilig gewesen, antwortete der Moskauer Autor Lew Rubinstein (Jahrg. 1947). Seine Generation sei vom Widerstand gegen die Verhältnisse geformt, war vorbereitet, ewig »Partisanen« zu sein. Nie habe man gedacht, dass die Sowjetmacht untergehen würde.

Natalja Kljutscharjowa (Jahrg. 1981) registrierte eine hoffnungsvollere Atmosphäre. Ljudmila Ulitzkaja, die berühmte Romanautorin, 1943 geboren, sieht es skeptischer: Dreißig, vierzig Jahre lang hätten die Menschen in ständiger Angst gelebt. Das habe zu Deformationen geführt, die bis ins Genetische reichen. So erkläre sich für sie, dass manche Leute sich in die imperiale Vergangenheit zurücksehnen.

Ein Mutant sei er also, konterte Zakhar Prilepin (Jahrg. 1971) ironisch: Wenn Ulitzkaja die Bewegung der »Neuen Sowjetischen« als Gefahr hinstelle, müsse er entgegenhalten, dass diese Bewegung vor dem Hintergrund rabiater neoliberaler Politik entstand, dass sie Resonanz inhumaner Verhältnisse ist. Unerträglich sei dieser Sozialdarwinismus ... - Als Biologin, so Ulitzkaja, müsse sie sagen, dass Darwinismus etwas sehr Interessantes ist.

War es langweilig zu sowjetischen Zeiten? Rubinstein sagte ja, Prilepin nein, und Ingo Schulze zitierte ein Sprichwort: »Ich wünsche auch meinen Feinden nicht, in interessanten Zeiten zu leben.« Da mischte sich aus dem Publikum der Schriftsteller und Journalist Wassili Golowanow ein: Die wichtigsten Entwicklungen im Land vollzögen sich jenseits von Fernsehbildern. Ökonomisch habe sich Russland unter Putin stabilisiert, gerade in der Landwirtschaft habe es einen Aufschwung gegeben ...

Mag sein. Aber traditionsgemäß bewegt sich die russische »Intelligenzija« in höheren geistigen Sphären. Das macht ja auch ihren Zauber aus: die Selbstgewissheit, Gewissen der Nation zu sein. Dieses Rollenbild aus dem 19. Jahrhundert wirkt bis heute: dem Volke zu dienen, so sagte es Ulitzkaja ausdrückte, »wie Albert Schweitzer in Afrika«. - Irritierend-treffender Ausdruck für das Verhältnis der Adelsintelligenz zum Volk. Abgehoben und demütig zugleich trug man die Fackel der Kultur durch dunkle Zeiten.

»Das andere Leben«, wie der großartige Schriftsteller Juri Trifonow einen seiner Romane nannte, ist für die »Intelligenzija« ein vornehmlich ideelles Ziel. Aufklärung, Bildung, Fortschritt der Zivilisation, Freiheit für das eigene Schaffen natürlich inbegriffen. Und die Krönung wäre, wenn alle Menschen zu begeisterten Lesern würden.

Man kann Natalja Kljutscharjowa ja so gut verstehen: In der russischen Provinz ist sie aufgewachsen, nicht in die Hauptstadt gegangen, sondern aufs Land. Mit großen Idealen - und war enttäuscht, dass die Menschen dort sich für gar nichts interessierten und nur am Fernseher klebten. Nun macht es ihr schon Hoffnung, wenn die Gesichter »bewusster« aussehen, wenn eine geistvolle Formulierung als Graffitti auftaucht. Schmerzlich registriert wird die Kluft zwischen der kleinen Schicht der Intellektuellen und der Mehrheit der Bevölkerung, für die der Traum vom »anderen Leben« viel stärker mit materiellen Bedürfnissen verbunden ist.

Zakhar Prilepin sieht sich da eher auf dem Boden der Tatsachen und genießt es sichtlich. Ein Studierter sei auch er, doch will er für sich mehr Volksnähe reklamieren. Nationalbolschewik, »in Kreisen der jüngeren Generation hat er Kultstatus«, heißt es in der Kurzbiografie zur Veranstaltung. Kein Wort dazu, dass sein Name ein Pseudonym ist, dass die Partei 2005 verboten wurde und auch nicht dazu, dass ihm antisemitische Haltungen vorgeworfen werden. Darauf angesprochen, weist er es zurück. Aber man sieht, dass er besonders für Ulitzkaja und Rubinstein eine Zumutung ist. Sie brauchen ihre Kraft, um sich gegen ihn zu wehren. Dagegen wirkt er souverän, punktet mit Äußerungen gegen menschenfeindliche kapitalistische Politik. Für ihn ist »Das andere Leben«, scheint's, nicht so vage wie für die anderen.

Zakhar Prilepin gehörte zu den Unterzeichnern des Oppositionspapiers »Putin muss weg«. Und dann? Langwierige Machtkämpfe oder nimmt jemand die Zügel noch fester in die Hand? Eine russische Angelegenheit - so genau erklärt er das den demokratiebeflissenen Deutschen nicht, sonst würden sie womöglich erschrecken.

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