»Wo sind wir?« - Im Wohnzimmer
Das neue Musiktheater in Linz startet mit einer Uraufführung von Philip Glass nach Handke: »Spuren der Verirrten«
Linz war einmal das österreichische Bitterfeld. Mit Fabriken und Schloten, welche die malerischen Donauauen verpesteten. Nach wie vor ist die Stadt Österreichs zweitwichtigstes Industriezentrum - doch zunehmend setzt man auf Umweltschutz und Kultur. Jüngster Schritt in diesem Imagewandel ist das neue Musiktheater, das Mitte April seine Pforten öffnete. Der Bau wurde geschickt in die Stadt integriert: Er steht neben dem Hauptbahnhof, am südlichen Ende der zentralen Shoppingmeile, die im Norden in den historischen Stadtkern mündet.
Der britische Architekt Terry Pawson hat seinen Entwurf als »Wohnzimmer für die Linzer Bürger« bezeichnet. Er schuf einen Riegel, dessen heller Betonrahmen eine Glasfront einbettet. Drinnen wandelt man durch helle, weitläufige Foyers aus Holz und sandfarbenem Marmor. Bindeglied zwischen Innen und Außen sind die vertikalen Holzlamellen. Der Eingang ist über einen Park zu erreichen, so dass auch unabhängig vom Spielbetrieb Besucher angelockt werden. Es gibt ein Café, ein Restaurant unterm Dach und das »Klangfoyer« mit multimedialen Stationen. Herzstück dieses markanten, aber zugleich schlicht funktionalen Hauses ist der große Saal, der mit dunklem Holz und rund tausend roten Samtsitzen eingerichtet ist.
Ein drei Jahrzehnte währendes Projekt ist nun zu seinem Abschluss gekommen. Da gab es erst das ehrgeizige Vorhaben eines unterirdischen Theaterstollens, das dann von der populistischen FPÖ durch ein Volksbegehren zu Fall gebracht wurde. Dann gab es mehrere Standortwechsel. Nun steht das Haus gerade an jener Stelle, die auch Hitler im Auge hatte. Der wollte Linz nach dem Endsieg zum europäischen Kulturzentrum machen und hier eine Wagner-Weihestätte errichten.
Dass das neue Theater mit der Uraufführung einer Oper von Philip Glass eröffnet wurde, ist keine große Überraschung. Generalmusikdirektor Dennis Russel Davies ist mit dem amerikanischen Komponisten befreundet und hat schon mehrere Glass-Uraufführungen nach Linz gebracht. Stoffvorlage für »Spuren der Verirrten« ist ein Text Peter Handkes, der 2007 bei der Peymann-Premiere am Berliner Ensemble keine große Furore machte. Der Linzer Intendant Rainer Mennicken hat das Libretto eingerichtet.
Als Regisseur wurde David Pountney, Intendant der Bregenzer Festspiele, engagiert, von dem man sich wohl ein gefälliges Bühnenspektakel erwartete. Das hat Pountney ebenso eingelöst wie die Bitte, das technische Potenzial des Theaters auszureizen: den versenkbaren Orchestergraben, die riesige Bühne mit ihrer 32-Meter-Drehscheibe und die von Flughäfen abgeschaute Kulissenlogistik.
Pountney kreierte ein Gesamtkunstwerk aus allem, was das Mehrspartentheater hergibt: Schauspiel, Tanz und Oper. Der Regisseur kleidet Handkes abstrakten Text, der ohne Handlung und konkrete Figuren auskommt, in einen opulenten Bilderreigen. Wir sehen Trachtendirndls und Alphornbläser, Tumulte im Talkshowstudio und tanzende Krankenhauspatienten, rollende Schafe und Riesenhasen, Ödipus und die sich entschleiernde Salome.
Während der erste Akt auch zarte Kammerspielmomente bietet, setzt Pountney im Laufe des Abends zunehmend auf pompöse Massenszenen. Fortwährend kreiselt die Drehbühne, und im langatmigen Finale singen zweihundert Personen auf der Bühne fortwährend »Wo sind wir?«.
Dass kein roter Faden existiert, ist hier nicht das Problem. Jedoch wirkt die Inszenierung für Handkes abstrakten Text viel zu gegenständlich. Handkes kryptische, an Zeitgeist und Entfremdung leidende Sprache ist mit den optimistisch vorantreibenden Klängen von Glass nicht zusammenzubringen.
Der Komponist ist seiner eingängigen, wiederholungsreichen Minimal Music treu geblieben. Seelenvorgänge vermag diese nicht zu erhellen; eher noch verwandelt sie Handkes feingeistige Sätze in Plattitüden. Besser zur Musik passen die roboterhaften Choreografien von Amir Hosseinpour.
Eine Eröffnung mit einer Uraufführung ist jedoch in jedem Falle vielversprechend. Das erweckt die Hoffnung, dass in diesem wunderbaren Theaterbau nicht nur die Operntradition museal verwaltet werden soll.
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