Asyl unter Tage
Im Kino: »No Place on Earth« von Janet Tobias
Die eine Großmutter war nett, die umarmte einen und hieß einen willkommen, erzählt eine der Überlebenden. Die andere Großmutter nicht, die wollte einen arbeiten sehen, produktiv sein. Diese Großmutter hieß Esther Stermer, und sie las Zeitung. Was in der Zeitung stand, die ihr aus Lwów geliefert wurde, konnte ihr nicht gefallen. Die Nazis waren in Deutschland an der Macht, es sah nach Krieg aus und nach Unheil für die Juden. Die Familie verkaufte ihr Land in der Ukraine, beantragte Visa, erhielt die Einreisegenehmigung nach Kanada. Am 8. September 1939 sollte es losgehen. Die Abreise aber verhinderte der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Von den dramatischen Versuchen, sich dennoch zu retten - davon erzählt der neue Dokumentarfilm »No Place on Earth« von Janet Tobias.
Während ihre Mitbürger in Ghettos und Lager getrieben wurden, fand Esther Stermer einen Fluchtort. Eine Höhle, mit Erdbänken für Tische und Heu auf dem Boden. Mit Lampen statt Tageslicht und einem Gängelabyrinth als Abenteuerspielplatz für die Kinder. Der Vater, der Großvater und ein Onkel, die als Altmetallsammler mit ihrem Fuhrwerk noch herumfahren konnten, brachten Wasser und Proviant - die Polizei ließ sich bestechen. Sonst gab es nur das Wasser, das von den Höhlenwänden tropfte.
Als die Deutschen die einheimischen Bauern zur Zwangsarbeit zu rekrutieren begannen, wurde der Eingangsbereich der Höhle zu gefährlich für die versteckten Juden: Sie mussten tiefer hinein in das Labyrinth, und sich auch vor den anderen Flüchtlingen verbergen. Die Kinder, nach einem zweiten Ausgang suchend, gruben sich durch die Wände der Höhle, bis sie die Sterne wiederfanden. Ein Weg an die Luft, der nur ein letzter Ausweg sein konnte.
Die Deutschen fanden sie trotzdem, und sie nahmen mit, wen sie gerade greifen konnten. Aber die Schwester unter dem Bett, den Sohn, der unter eine Decke schlüpfte, die Tante, die sich in einen Nebengang flüchtete, fanden sie nicht. Die Übriggebliebenen flüchteten zurück ins Dorf, sollten erschossen werden - und durften gehen, gegen Geld und ein Sicherheitspfand von fünf Leichen im richtigen Alter, falls die Deutschen wiederkämen. Eine inszenierte »Scheinerschießung«, die nur drei von ihnen überlebten.
Am 1. Mai 1942 bezogen sie ihre zweite Höhle. Sie waren 38 Personen, mehrere Familien zusammen. Und sie blieben anderthalb Jahre. Nur die Männer wagten sich gelegentlich nach draußen, um Proviant zu holen. Dass es sie gab, war ein offenes Geheimnis unter den Dörflern: Als ein New Yorker Ermittler, der in seiner Freizeit Höhlen erkundet (und in der heutigen West-Ukraine die Ursprünge seiner eigenen Familiengeschichte), die Höhle mit ihren menschlichen Hinterlassenschaften 1993 entdeckte, sagte man ihm, da hätten wohl Juden gelebt.
Jede Höhle habe ihre Besonderheiten, erzählt dieser Chris Nicola. Und auch wenn Menschen manchmal meinten, in der Dunkelheit lauerten Monster, seien Höhlen doch immer Rückzugsorte gewesen vor wilden Tieren. Die wilden Tiere, die diese Menschen bedrohten, waren - Menschen.
Wie es den Versteckten erging, zeigt Regisseurin Janet Tobias in nachgestellten Szenen. Vom Höhlenforscher, der noch einmal die kleinen Damenschuhe vermisst, die er schon zwanzig Jahre zuvor unter der Erde fand, bis zu Esther Stermers Enkelin und ihren Erinnerungen. Heute eine würdige alte Dame mit toupierten Haaren, erscheint sie in den Spielszenen als Kind am Marktstand mit ihrer weitblickenden Großmutter. Wenn das Kind spricht, hat es einen Akzent. Die alte Dame hat den nicht - ihre Sprache ist längst Englisch, und aus den 38 Überlebenskämpfern unter Tage wurden 125, Enkel und Urenkel mitgerechnet.
Dass Regisseurin Janet Tobias die Überlebenden in abgedunkelten Studio-Situationen filmt, lässt die Düsternis der nachgestellten Höhlenszenen übergangslos in die der heutigen Interviews fließen - so wird die Enge der Höhle anderthalb Stunden lang auch für den Zuschauer erlebbar.
Nur die Hintergrundmusik, die klingt manchmal so, als müsse sie das Unglaubliche noch unterstreichen. Was nicht nötig wäre, es ist auch so unglaublich genug.
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