»Wir geben Erinnerung zurück«

Geraubte Bücher stehen bis heute in den Bibliotheksregalen

  • Marlene Göring
  • Lesedauer: 3 Min.

Wer ein Buch ausleiht, nimmt ein Stück Geschichte mit nach Hause. Nur ist sie selten deutlich zu lesen. Zehntausende der antiquarischen Bücher in den Regalen der Berliner Bibliotheken sind Raubgut. Vor rund 60 Jahren wurden sie von den Nationalsozialisten gestohlen, blieben auf der Flucht oder im Hausrat Deportierter zurück. Manche wurden von ihren Besitzern verpfändet, um das Überleben zu sichern.

Um diese Bücher geht es in der Ausstellung »Geraubt und genutzt«, die seit gestern in der Neuen Synagoge zu sehen ist. Sie ist in Gemeinschaftsarbeit der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB) und dem Centrum Judaicum entstanden. Sie rekonstruiert den Weg der Bände in den Bibliotheksbestand - und möglichst zurück zu den Familien der Beraubten und Ermordeten.

»Nie hätte ich gedacht, dass sich so viele Spuren finden«, erklärt der Peter Prölß, Mitarbeiter der ZLB. Er ist einer der Wissenschaftler, die in den letzten drei Jahren in gewissenhafter Detailarbeit 45 000 Bücher und 55 000 Zeitschriften untersucht haben. Eine überklebte Widmung, ein J in der Signatur, ein ausradierter Name - die Spuren, die sie verfolgen, sind kaum sichtbar. »Von Buch zu Buch vollziehen wir die Hinweise nach«, erklärt Prölß. Bis sich ein Gesamtbild ergibt. Denn das Ziel ist immer die Rückgabe der Bücher an die Nachkommen der ursprünglichen Besitzer. Und das klappt öfter, als er erwartet hätte, sagt Prölß.

Wie im Fall von Alfred Friedländer, der als Besitzer eines Gedichtbands ausgemacht wurde. Der Name ist allerdings sehr häufig, eine Identifikation schien unmöglich. Einziger Anhaltspunkt war die Buchmarke, die sogenannte Exlibris: ein Pegasus, das Symbol der Dichtkunst, auf einem Erlenmeyerkolben. So konnte das Buch mit einem Doktor der Chemie und Philosophie in Verbindung gebracht werden. 2012 nahm dessen Enkelin Melanie, die in Südafrika wohnt, das Buch in Empfang.

Es geht mehr als um Entschädigung, denn materiell sind die Bücher selten etwas wert. »Wir geben etwas viel Wichtigeres zurück: Erinnerungen«, sagt Prölß. Dabei hilft auch das ZLB-Archiv, das aus der Arbeit entstanden ist. Dort wird jedes geraubte Buch ausgewiesen, Verwandte und Bekannte können nach dem antiquarischen Erbe suchen.

10 000 Exemplare hat die ZLB in das Archiv als verdächtig aufgenommen. In deren Besitz gelangten die Druckwerke über verschiedenste Wege. Zum einen liefen in Berlin die NS-Behörden in ihren Schaltzentralen zusammen. Der Hausrat von Deportierten aus dem ganzen Reich konnte hier landen. »Außerdem lebten hier auch die meisten jüdischen Bürger«, erläutert Prölß. Nach dem Krieg gab es Bergungsaktionen, die kulturelle Güter der Öffentlichkeit nutzbar machen wollten. »Die Bücher lagen in verschütteten Kellern im Dreck, das waren richtige Bücherrettungen«, so Prölß. Geborgen wurden aber auch Privatbibliotheken von NSDAP-Mitgliedern und die Depots der Rauborganisationen. Damals wurde diese Herkunft aber nicht dokumentiert. Das J für Jude in der Signatur, die die Nazis den Büchern gegeben hatten, wurde zu G wie Geschenk.

Erst vor etwa zehn Jahren begannen Bibliotheken weltweit, diese Quellen ihres Bestandes zu hinterfragen. Es bleibt viel zu tun, mahnt das letzte Banner der Ausstellung. Ab Sommer kann die ZLB ihre Arbeit aber nur eingeschränkt fortsetzten. Dann läuft das bundfinanzierte Projekt aus.

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