Die eigene Wahrhaftigkeit
Privates und Öffentliches gehören im Werk Willi Sittes untrennbar zusammen
Es wird leicht übersehen, das Private in Willi Sittes Werk. Doch es gilt: Kunst, wenn sie denn wahr sein soll, ist ebenso privat, wie sie sich an Öffentlichkeit wendet. Alles, was Sitte zeichnete, alles, was er malte, beweist es. Sogar, was er aus dem privatesten, dem familiär-häuslichen Bereich heraus zu Bildern formte, steht in diesem untrennbaren Zusammenhang.
Wie das später kaum mehr geschah, geben Zeichnungen aus den Anfangsjahren seines Wirkens Einblicke in das ihn Beglückende des familiären Alltags. Sie sind angefüllt mit Bildnisstudien seiner jungen Frau, mit skizzenhaften Zeichnungen des 1949 geborenen Sohnes, zeigen zumal den Sohn mit schlichter Anschaulichkeit. Als Sitte 1954 den Sohn im Faschingskostüm mit Masken vor einer grauen Wand malte, stand noch die Plastizität der naturalistisch wiedergegebenen Figur im Widerspruch zu den etwa gleichzeitig unter dem zunehmenden Einfluss durch Werke Pablo Picassos entstandenen farbigen Studien und Gemälden. Was dort schon erreicht war, nahm der Maler in der Szene aus eigener Häuslichkeit zugunsten des Porträts weitgehend zurück. Erst ein Jahr später, 1965, als Sitte »Volkmar mit dem Schaukelpferd« malte, wird die aus Licht und Schatten entstehende Plastizität des Figürlichen eingebunden in das räumliche Wirken farbperspektivischer Mittel und kompositionell geordneter Flächen. An der Wende zu den sechziger Jahren verband sich dann ein zunehmend psychologisches Durchdringen gemalter Menschengestalten den von Picassos Werken angeregten Formbetonungen, um deren inhaltsbezogene Anwendung Sitte über ein Jahrzehnt lang in harter Auseinandersetzung mit den in der DDR staatlich vorgegebenen ästhetischen Doktrinen gerungen hat. An den mit verinnerlichter Anteilnahme gemalte Elternbildern lässt sich sehr gut das Vordringen des Malerischen in Sittes Werk verfolgen. Darauf erhalten die dargestellten Menschen einen Ausdruck des Unmittelbaren, als seien sie durch tausend Fäden mit ihrer Umgebung, mit dem Leben um sie her verbunden.
Die Leidenschaftlichkeit, mit der Sitte, zumal in den fünfziger und sechziger Jahren, in der DDR Gestaltungsfreiheit forderte und gegen jedwede politische und kunsttheoretische Dogmenenge verteidigte, war für ihn bis zum Privaten hin verinnerlicht. Er befand sich damit und noch bis zur Mitte der siebziger Jahre in einem streitbar behaupteten Gegensatz zu der in der DDR dogmatisierten Lehrmeinung. Konfliktsituationen blieben daher nicht aus. Im Jahre 1963 wurde sogar eine »OperativVorlaufakte« des Staatssicherheitsdienstes gegen den Maler eröffnet. Er war beschuldigt, »fortgesetzt handelnd in negativer Form gegen die Kulturpolitik der DDR« aufzutreten. Unter anderem hatte Willi Sitte während einer Tagung des Verbandes Bildender Künstler erklärt, dass es in der DDR keine Kulturpolitik, sondern eine Diktatur der Kultur gäbe. Sitte mischte sich ein, weil das Öffentliche ihn bis ins Private berührte. Der Beweis hierfür lässt sich an Beispielen aus jeder Werkgruppe dieses Künstlers führen.
Dynamik, Aktivität, Reduzierung auf Grundsituationen, prozesshafte Sicht - das sind die Stichworte, unter denen Sittes Schaffen besonders nach 1964 steht. Das gilt auch für Zeichnungen und Gemälde, die private Vorlieben des Malers wie das Baden im Meer zum Anlass haben. Sein bevorzugtes Sommerdomizil war der Badestrand zwischen Ahrenshoop und dem Darß. Dort lebte sich der Drang des Malers zum Auskosten von Nacktheit im Anspringen gegen das die Haut peitschende Wasser hochgehender Wogen aus, genoss er das Empfinden naturgegebener Körperfreiheit. An seinen Aktdarstellungen entwickelte sich um die Mitte der sechziger Jahre ein für den Maler völlig neuartiger Kolorismus, ausgerichtet darauf, so viel geballte Kraft wie möglich in die Ausführung zu bringen, ein Kolorismus, der zugleich aus den vielen Zufälligkeiten entstand, die sich beim Malen, Verwerfen, Übermalen und im freien Spiel mit Pinsel und Farbe ergeben.
Immer wieder malte Sitte Liebende, er malte sie mit einer sexuellen Eindeutigkeit, die an den Bildern dieses Malers dennoch mehr ist als Darstellung bloßen Trieblebens. Zugleich ist sie Zeugnis für Individualität und Menschlichkeit. Die sexuelle Zuwendung verbindet sich mit Zärtlichkeit, das Lustbetonte lässt auch Verletzbarkeit erkennen, das Zeugende schließt Leben und Tod in sich ein. Liebespaare stellte Willi Sitte während aller Schaffensperioden so zahlreich dar, dass er als Maler und Zeichner ein großer Huldiger der Liebeskunst genannt werden darf. Sie sind nicht minder ein Ausdruck des eigenen Verlangens nach zwischenmenschlichen Beziehungen als Bestandteil eines Sozialverhaltens, das des Menschenlebens würdig ist, es nicht an der Gesellschaft neurotisch und krank werden lässt, anfällig für Betäubungssucht, Gewalttätigkeit, Fremdenhass und den Massenhass in Kriegen.
Auffällig verbindet sich im Spätwerk des Malers dem Lebensvollen die Gestalt des Todes. In Sittes Kunst bezieht sich die dem Tod verbundene Vanitasvorstellung auf ihren klassischen Ursprung in der griechischen Antike. Sie fordert zum Widerstand auf, nicht gegen den Tod in seiner Naturgesetzlichkeit, sondern vor allem gegen Todesbedrohungen und Todesängste, wie sie Menschen den Menschen bereiten. Die Dichte der Vanitasmotive im Schaffen des Malers nach 1989 verrät auch etwas von Sittes psychischem Zustand nach dem Zusammenbruch eines politischen Systems, mit dem sich die getäuschten Hoffnungen an ein ersehntes Maß von Menschlichkeit verbanden, dessen Machtstrukturen der Maler jedoch nicht als Verformungen missbrauchter Ideale zu durchschauen vermochte. Bilder Liebender, wie Sitte solche nach 1989 mit den Symbolen des Todes malte, erscheinen noch stärker als in allen früheren Jahren wie ein Sichaufbäumen der eigenen Vitalität gegen das mit grausamer Eindringlichkeit den Maler Bedrängende. Im Sturz aus Utopia enthüllte sich ihm die Bedrohung des Menschlichen nicht mehr länger nur als ein der allgemeinen Gesellschaftsproblematik zugeordnetes Phänomen, ihm erschien es jetzt deutlich als Folge des Widersprüchlichen im Menschen selbst, als Folge einer Selbstsucht, der Grenzen zu setzen ein Teil menschlicher Verantwortung ist.
Geradezu vermittelnd vom Privaten hin zum Öffentlichen stehen die Selbstbildnisse Sittes. Privat sind sie ein Erkunden nicht nur der eigenen Physiognomie, auch der eigenen Psyche, des Individuellen unter den Umständen besonderer Situationen des Daseins. Zum ersten Male zeichnete Sitte sich selbst, als 1963 sein Bildnis für eine Aufsatzsammlung über eine Anzahl ausgewählter Künstler gewünscht wurde. Ein gemaltes Selbstbildnis entstand danach erst 1968. Darauf, wie ähnlich auf allen in nachfolgenden Jahren gemalten Selbstbildnissen, standen hinter dem wiedergegebenen, sich selbst erforschend auf den Spiegel gerichteten Blick stets auch Zweifel, die sich dem wachsenden Selbstbewusstsein des Malers zugesellten. Besonders eindringlich aber und tief in die Psyche lotend sind die Selbstdarstellungen Sittes, die nach dem Ende der DDR entstanden. Willi Sitte hatte geglaubt und gehofft, das kommunistisch gelenkte Gesellschaftssystem könne in dem 1949 gegründeten ostdeutschen Teilstaat den Makel des Stalinismus von sich wischen, den er am eigenen Leibe erfahren hatte. Um so schwerer traf ihn die vollständige Auflösung des sozialistisch genannten Weltlagers. Seine Selbstbildnisse bezeugen das für ihn Schmerzhafte an diesem Prozess, das Empfinden eines um gehegte Erwartungen Betrogenen.
Ein Mann sitzt auf seiner Vergangenheit. Ihm ist, als existiere er für den Teil Deutschlands nicht mehr, in dem er mehr als vierzig Jahre lang lebte und namhaft war. Der Mann ist gesichtslos, der da auf seiner Vergangenheit sitzt, auf dem verblichenen Gerippe dessen, was einmal für ihn Teil hatte am Leben. Die Arme hängen ihm schlaff in den Schoß. Das Gestische an diesem Körper lässt den Blick von Augen ins Leere ahnen, es reicht aus, um Niedergeschlagenheit zu zeigen. Möglich erscheint, dass der Mann sich erhebt, sich von dem Schatten löst, den seine Gestalt an die Wand hinter ihm wirft. Auch dieses Gemälde ist ein Selbstbildnis Sittes. Es hat nichts mit dem bloßen Konterfei seines Äußeren gemein. Es ist das Bild eines Zustandes, in den sich der Maler gestoßen fühlte, als er unter den Trümmern des zusammengebrochenen Staates, dem er diente, die eigenen Ideale verschüttet sah.
Zu lange hatte auch Willi Sitte zu denen gehört, die glaubten, dass es nur eine politische Wahrheit gäbe. Jetzt war er von sich selbst enttäuscht. Sitte sah die »Zweigesichtigkeit« nicht nur von Menschen, sondern des Daseins überhaupt, verbildlichte sie zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion. Seine Gabe des Bildfindens blieb ungebrochen, sein Sinn für das Gebrochene aber wurde geschärft. In der Zinkographie »Selbstbefragung« (1992) hebt sich aus der Vielschichtigkeit einer Darstellung, die an Franci co de Goyas »Caprichos« erinnert, eine grandios formulierte und auf die eigene Daseinshaltung bezogene Ironie des Malers heraus. Der Fragende ist nur Körper und Schatten. Er sitzt dem als Plastik geformten Eigenbild gegenüber, grimmig gebeugt als Folge leichtfertig dahingesprochener Verdammungsurteile.
Betroffenheit lässt manches schärfer sehen, doch manches verdunkelt sie auch. Einst hatte die Mutter dem Sohn ihren vom Katholizismus geprägten Glauben angetragen. Der Maler kannte den Bibeltext. Den »Steinschmeißern«, die er 1993 malte, hielt er mit seinem Bild entgegen, was Jesus den selbstgerechten Pharisäern und Schriftgelehrten sagte, als sie sich leichtfertig auf Gesetze des Moses beriefen: »Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.« Bezogen ist die Darstellung auf den heiligen Stephanus. Ihn verurteilte der Hohe Rat in Jerusalem seines Glaubens und seiner Lehre wegen zum Tode durch das Steinigen. Empfand sich der Maler selbst wie gesteinigt, weil er an die Reinheit der Lehre glaubte, die er vertrat? Sein Schatten verließ ihn nicht, und was er malte, war wie ein stetes Ringen mit ihm, mit vielen an sich selbst gerichteten Fragen.
Solange er zum Denken fähig war, bestimmte für Willi Sitte der Grad eigener Wahrhaftigkeit den Rang der Dinge, sowohl im Bezug auf das Leben als auch auf die Kunst.
Dr. Wolfgang Hütt, geb. 1925, Kunsthistoriker und Publizist, ist Autor der Monografien »Willi Sitte« (Verlag der Kunst, Dresden 1972) und »Willi Sitte, Gemälde 1950-1994« (DruckVerlag Kettler, Bönen 1995).
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