Die Opfer als Täter

In Berlin zog das »Flüchtlingstribunal« eine bittere Bilanz des deutschen Rassismus

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 2 Min.
Wer wäre ein Experte für Flüchtlingspolitik - wenn nicht der Betroffene selbst? Das Berliner »Tribunal« arbeitet an der Selbstermächtigung der Flüchtlinge.

Bunte Transparente flattern am Mariannenplatz in Berlin-Kreuzberg. »Residenzpflicht abschaffen«, »Oury Yalloh, das war Mord«, lauten einige der Parolen. Andere prangern den Kolonialismus an. Das waren auch die Themen, die in den letzten vier Tagen beim Internationalen Flüchtlingstribunal gegen die Bundesrepublik Deutschland am Mariannenplatz verhandelt wurden.

»Die Opfer deutscher Flüchtlingspolitik haben eine Stimme bekommen«, lautete der Tenor der Abschlussveranstaltung am Sonntag. »Wir haben über unsere Erfahrungen gesprochen, weil wir selber Experten der deutschen Flüchtlingspolitik sind«, erklärte ein Mitorganisator. Dabei sei Unterstützung auch von Juristen, Ärzten und zivilgesellschaftlichen Organisationen willkommen. Im Mittelpunkt habe aber die Selbstermächtigung gestanden, so der Sprecher Rex Osa. Längerfristig sollen die gesammelten Erkenntnisse auch für juristische Schritte genutzt werden.

Am Mariannenplatz konnte man in den letzten Tagen ergreifende Geschichten von Menschen hören, die oft nur mit Glück überlebten. So berichtete ein heute in Hamburg lebender Mann, wie er in Libyen nach dem Sturz des Regimes von Milizionären aus seiner Wohnung entführt, in die Wüste verschleppt und dort ausgesetzt wurde. Als er zurück auf eine belebte Straße gefunden hatte, wurde er abermals von Milizen bedroht. Er bestach sie - und floh nach Europa. Mittlerweile gehört er zu den Initiatoren der Flüchtlingsproteste, die seit Frühjahr letzten Jahres Zulauf bekommen.

Nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Staatsbürger, die für Flüchtlinge gehalten werden, haben einen harten Alltag in Deutschland. Das betonte ein Frankfurter Aktivist am Beispiel von Christy Schwundeck. Die dunkelhäutige Frau war vor zwei Jahren von einer Polizeibeamtin nach einem Streit in einem Frankfurter Jobcenter erschossen worden. Die Polizistin habe in »Notwehr« gehandelt, hieß es hinterher.

Dass nicht erst bei den NSU-Morden die Opfer rassistischer Gewalt zu Tätern gemacht wurden, zeigte eine Initiative am Beispiel der in Ägypten geborenen Marwa al Sherbini. Sie war 2009 im Dresdner Landgericht von einem Rassisten erstochen worden, den sie verklagt hatte. Die Polizei hielt ihren Ehemann, der sich schützend vor sie gestellt hatte, für den Täter und schoss auf ihn.

»Wir haben von diesen Fällen gehört. Aber die kompakte Vorstellung auf dem Tribunal war beeindruckend«, meint auch ein Berliner Aktivist. Er zeigte sich enttäuscht, dass die Zahl der Gäste eher gering war. Dass sich auch die Zahl der Flüchtlinge in Grenzen hielt, sei aber auch die Folge von Einschüchterung. So seien mehrere Flüchtlinge wegen der Residenzpflicht an der Anreise gehindert worden.

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