»Schlagt euch Wohnungen aus dem Fels!«
Ziegen auf dem Sandsteindach - ein Besuch in den Haus-Höhlen von Langenstein am Harz
Langenstein. Die Türöffnung ist selbst für kleine Menschen fast zu klein. Hinter der Holztür erfasst das Auge zunächst nur Dunkelheit. Kühle, feuchte Luft strömt den Besuchern entgegen. Sie ziehen die Köpfe ein und raunen sich Warnungen zu. Niemand stößt sich, keiner stolpert. Im Inneren der Höhle reichen die Großwüchsigen fast bis an die Decke. Alle drehen sich immer wieder um die eigene Achse. Aus der anfänglichen Vorsicht ist Verzückung geworden.
Die Höhle ist eine Wohnung. Statt Tapeten zieren Meißelspuren die Wände und anstelle von Parkett gibt es einen festen, erdigen Fußboden. Durch ein einziges, kleines Fenster fällt Licht herein. Landarbeiter haben dem Sandsteinfels diesen kargen Wohnraum abgerungen - in mühseliger Handarbeit. Vor mehr als 160 Jahren.
Die Höhlenwohnungen liegen auf dem Schäferberg in Langenstein, einem Ortsteil von Halberstadt in Sachsen-Anhalt. Sie sind ein einzigartiges Zeugnis einer aus Armut geborenen Wohnkultur in Deutschland. Fünf von ehemals zehn Wohnhöhlen sind erhalten geblieben. Sie sind Eigentum der Stadt und locken jedes Jahr bis zu 12 000 Besucher auf den Langensteiner Schäferberg. Siegfried Schwalbe nennt sie liebevoll »Felsenvillen«. »Sie sind aus Verzweiflung und purer Wohnungsnot heraus entstanden«, erzählt der Vorsitzende des Vereins Langensteiner Höhlenwohnungen. »Man hat den wohnungslosen Landarbeiterfamilien Mitte des 19. Jahrhunderts gesagt: Schlagt euch Wohnungen aus dem Fels! Und sie taten es.« Auf dem Schäferberg entstand eine regelrechte Höhlenstraße. »Hier waren die Voraussetzungen am allerbesten«, sagt der 73-Jährige. Acht Groschen Baugeld haben die Großfamilien Historikern zufolge für den »Bauplatz« bezahlt. Das war alles. »Keine Miete, nichts«, sagt Schwalbe. »Sie haben bis zu einem Jahr lang den Sandsteinfelsen mit eigenen Kräften ausgehöhlt. Dafür sollten sie nicht auch noch bezahlen müssen.« Auf rund 30 Quadratmetern schälten sie ein Wohnzimmer, eine Küche und ein Schlafzimmer aus dem weichen Gestein. Offenes Feuer wärmte die Familie und diente außerdem als Kochstelle. »Innentüren gab es nicht. Die Wärme musste ja zirkulieren«, sagt Schwalbe.
Die Besucher stehen mittlerweile wieder vor der Höhle. Einige finden kaum Worte für das Gesehene. »Grandios. Es ist spärlich, aber sehr urig und gemütlich«, meint eine Seniorin. Und eine andere ergänzt: »Schön ist, dass alles wie früher eingerichtet ist. Mit Strohsäcken in den Schlafnischen, dem alten Herdofen und den vielen Utensilien. Das ist toll.«
Schwalbe erzählt: »1916 starb der letzte Bewohner.« Ein Raunen geht durch die kleine Menge. »Danach dienten die Höhlen bis zur Wende als Vorratsräume oder Tierställe. Die Hälfte fiel in dieser Zeit zusammen oder wurde überbaut.«
Dann deutet der Vereinsvorsitzende auf das Höhlendach, das eigentlich keins ist. Es ist eine mit feinem Gras bewachsene Kuppe. »Früher hielten die Bewohner ihre Ziegen und Schafe da oben«, sagt er. »Und warum? Weil die Tiere verhindert haben, dass sich Büsche oder gar Bäume dort festsetzen und die langen Wurzeln den feinen Sandstein durchsetzen und porös machen. Dann wäre wohl die Decke eingestürzt.«
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