Überleben mit einem Dollar am Tag
Mursis Politik ist nicht schuld an der Wirtschaftsmisere, aber er hatte nicht einmal das Problem erkannt
Mohammed Mursi war am Ende nur ein Jahr und drei Tage Ägyptens Präsident. Er hat nicht mit eiserner Hand regiert wie seine Vorgänger, nicht die arabische Seele gedemütigt wie Anwar al-Sadat, sich nicht in schamloser Weise bereichert wie Hosni Mubarak und dessen Familie. Dennoch verlief sein Absturz im Ansehen der Bürger dramatisch schnell. Warum?
Bei der Ursachensuche kommt man auf zahlreiche politische Fehler, infolge derer sich die Muslimbrüder und ihr Exponent Mursi unbeliebt machten. Vergessen wird bei politischen Erörterungen aber häufig jene Frage, die noch immer 'zig Millionen Ägypter zuallererst interessiert: Wovon werde ich morgen mein Essen bezahlen?
Wenn man zuhörte, was Demonstranten antworteten, warum sie auf der Straße sind, hieß die Antwort nicht selten: »Weil es uns immer schlechter geht.« Und das war mit Sicherheit kein gefühlter, sondern sehr wörtlich zu nehmender Unmut. Die wirtschaftliche Lage des Nillandes ist seit Jahrzehnten niemals entspannt gewesen, auch ohne Krieg mit Israel; der letzte ist im Oktober 40 Jahre her.
Ägypten hat eine schnell wachsende Bevölkerung von inzwischen über 80 Millionen Einwohnern. Aber höchstens drei Prozent der Landesfläche sind landwirtschaftlich nutzbar. Folglich muss immer mehr für Lebensmittelimporte ausgegeben werden - Geld, das Ägypten einfach nicht hat. Es ist auf Darlehen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und Haushaltszuschüsse anderer Staaten angewiesen.
Sehr erschwerend hinzu kam nun, dass in den vergangenen zwei Jahren traditionelle Einkommensquellen erhebliche Einbußen hinzunehmen hatten, zum Beispiel der Tourismus, neben dem Suezkanal bisher der einzige stabile Devisenzufluss.
Zwar sind bei den Demonstrationen im Februar 2011, die zum Sturz Mubaraks führten, und in der Folgezeit keinerlei Touristen zu Schaden gekommen, dennoch wurden sie offenbar abgeschreckt. 2011 und 2012 kamen jeweils 30 Prozent weniger zahlende Gäste, ein Verlust von schätzungsweise sechs bis sieben Milliarden Dollar.
Nach Angaben der Kairoer Einreisebehörde waren 2010 rund 14,7 Millionen Ausländer nach Ägypten gekommen. In den Folgejahren blieb die Zahl unter zehn Millionen. Von denen und dem Geld, das sie in Ägypten ausgeben, aber leben Millionen entlang des Nils zwischen Alexandria und Assuan sowie in den Touristikzentren am Roten Meer. In der volkswirtschaftlichen Statistik schlägt sich das erbarmungslos nieder: 2010 mussten 22 Prozent aller Ägypter mit maximal einem Dollar pro Tag auskommen; ein Jahr später waren es 25 Prozent und 2012 bereits fast 30 Prozent.
Es wäre unangebracht, die Schuld dafür den Muslimbrüdern in die Schuhe zu schieben, aber sie haben sich dieser Situation gegenüber ausgesprochen unsensibel erwiesen. Anstatt alles zu tun, um Vertrauen aufzubauen, hatte Mursi für die Region Luxor, die fast ausschließlich vom Altertumstourismus lebt, Ende Juni einen neuen Gouverneur ernannt, der der Partei Aufbau und Entwicklung angehört. Das ist der politische Arm jener islamisch-fundamentalistischen Gruppe, die in den 1990er Jahren wiederholt Touristen attackierte. In die Verantwortung der Gama'a Islamiya fiel auch der Feuerüberfall von 1997 nahe dem Hatschepsut-Tempel, dem 58 Touristen zum Opfer fielen. Auch Ankündigungen von Alkoholverboten und Kleidervorschriften mögen aus Sicht der Muslimbrüder verständlich erscheinen, geschäftsfördernd sind sie nicht.
Zu Jahresbeginn reiste eine IWF-Delegation nach Kairo, um neue ägyptische Kreditwünsche zu erörtern. Einigen konnte man sich offenbar nicht. Mursi hat sich wohl auch verspekuliert und auf falsche Freunde vertraut. Speziell aus Katar und Saudi-Arabien hatte er viel Beifall für seine markigen Rücktrittsforderungen gegenüber Syriens Präsident Baschar al-Assad erhalten. Der Dank in Form von petrodollargestützten Darlehen, zu denen beide Staaten locker in der Lage wären, ist aber so gut wie ausgeblieben.
Ob die Hoffnung der Ägypter auf Besserung ihrer Lage sich nun bald oder überhaupt erfüllt, steht allerdings dahin.
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