»Ohnmächtige Wut«

Die Muslimbrüder wehren sich gegen den Vorwurf, Gewalt zu verursachen

  • Oliver Eberhardt, Kairo
  • Lesedauer: 3 Min.
In Ägypten gehen die Proteste für und gegen die Absetzung von Präsident Mursi weiter. Politik und Militär beraten derweil weiter über den neuen Premierminister - ein Prozess, der sich weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit abspielt.

Kurz nach Mittag sind sie wieder da. Zu Tausenden versammeln sie sich in den Straßen rund um die Rabaa al-Adawiya Moschee, und Wut, Fassunglosigkeit sind auch heute, am Sonntag, die Gefühle, welche die Leute auf die Straße treiben. Für die Demonstranten hier, in Nasr City, der Kairoer Hochburg der Muslimbruderschaft, ist das, was sich vor vier Tagen einige Kilometer weiter abgespielt hat, keine Revolution. Für sie war es ein Putsch. »Die Armee hat uns betrogen«, sagt der 34jährige Mohammad Hamad: »Sie ist dazu da, uns, das ägyptische Volk, zu beschützen. Stattdessen bedrängt und erwürgt sie uns.« Wobei er mit »Volk« die Wähler meine, die vor einem Jahr Mohammed Mursi mehrheitlich zum Präsidenten gewählt haben, fügt er hinzu. Hamad ist Arzt, Orthopäde, hat in Deutschland studiert: »Was würde man in Deutschland sagen, wenn in Bayern die CSU-Regierung abgesetzt wird, weil sie den SPD-Wählern nicht mehr gefällt?«

In diesen Tagen wird deutlich, dass es nicht ein Ägypten gibt. Es gibt das Ägypten des Tahrir-Platzes, wo man nach der Revolution in die Kneipe geht, oder zum Hard-Polka-Konzert. Uns es gibt das Ägypten rund um die Rabaa al-Adawiya-Moschee, wo die muslimischen Gebetszeiten den Tagesablauf bestimmen und die Leitlinien des Islam die Richtschnur des menschlichen Handelns sind.

Mehr zum Thema

Ägypten: Viele tote Mursi-Anhänger in Kairo

In Kairo sind offenbar Dutzende Menschen getötet worden. Nach Angaben der Armee hatten Mursi-Anhänger versucht, eine Militäreinrichtung am Stadtrand von Kairo zu stürmen, als das Feuer auf sie eröffnet worden sei. Der Angriff galt einer Einrichtung der Republikanischen Garde. Zuvor hatte es in Kairo Gerüchte gegeben, dass sich der vom Militär gestürzte Präsident Mohammed Mursi dort aufhalten könnte. Mehr

Muslimbruderschaft in Ägypten

Die Muslimbruderschaft in Ägypten ist die älteste und größte Vertretung der sunnitischen Muslime des Landes.

MÄRZ 1928
Imam Hassan al-Banna gründet die Muslimbruderschaft in der Stadt Ismailija am Suezkanal. Sie gewinnt als Wohlfahrtsorganisation mit islamischer Ideologie rasch Anhänger. Schon bald nach der Gründung übernimmt sie eine politische Rolle, widersetzt sich der britischen Präsenz und streitet für einen islamischen Staat.

DEZEMBER 1948
Ein Muslimbruder ermordet Ministerpräsident Mahmud Fahmi al-Nukraschi, der die Auflösung der Organisation angeordnet hatte. Die Bruderschaft wird brutal unterdrückt.

1954
Die Bruderschaft unterstützt die Revolution von Gamal Abdel Nasser. Doch unterschiedliche Ziele und Misstrauen führen zum Bruch und zur Verfolgung. Nach einem versuchten Attentat verbietet Nasser die Organisation erneut. 1966 wird der Vordenker Sajjeb Kotb gehängt.

1981
Präsident Anwar al-Sadat wird von einem früheren Muslimbruder getötet.

5. JULI 2013
Übergangspräsident Adli Mansur löst das Parlament auf. Der Anführer der Muslimbrüder, Mohammed Badie ruft zu Massenprotesten auf, bis ihr Präsident Mohammed Mursi zurück im Amt ist.

»In den ausländischen Medien wirkt es immer so, als wären wir Religiösen ein Haufen von durchgeknallten Fanatikern«, sagt Hamad: »Schauen Sie sich um - die allermeisten hier wollen keine Gewalt, wobei ich gar nicht wegreden möchte, dass vor allem die Jugendlichen schwer zu kontrollieren sind. Es ist auch kaum zu vermitteln, dass Wählerstimme plötzlich nichts mehr zählen sollen.«

Viele dieser Jugendlichen werden demnächst zum Militär eingezogen werden, in eine Armee, die in diesen Tagen mit harter Hand gegen die Proteste für den abgesetzten Präsidenten vorgeht. Am Freitag feuerten Soldaten, kurz nachdem sich nach dem Mittagsgebet mehrere zehntausend Menschen in Nasr City versammelt hatten, in die Menge. Die Soldaten seien nur mit Platzpatronen ausgerüstet gewesen, behauptete die Armeeführung. Das war mit Sicherheit nicht so: Mitarbeiter von Krankenhäusern in Kairo, aber auch in Alexandria, einer weiteren Hochburg der Proteste, berichten von einer großen Zahl an Verletzten, die mit Verwundungen eingeliefert wurden, wie sie typischerweise von Schrapnellgeschossen verursacht werden. Die Verletzungen entstehen häufig durch Asphaltstücke, die durch Schüsse auf den Boden absplittern.

Mohammad el-Baradei, früher Präsident der Internationalen Atomenergiebehörde und ein Wortführer der Opposition, rechtfertigte gegenüber BBC die Militäreinsätze mit den Worten, Ägypten würde sonst im Bürgerkrieg versinken. Überhaupt könne man Ägyptens Demokratie nicht nach amerikanischen oder europäischen Maßstäben messen: »Die Handlungen des Militärs werden die Revolution in die richtige Richtung zurück lenken.«

Nach den Wünschen der Tamarud-Bewegung hatte Baradei der Mann sein sollen, der nach der Absetzung Mursis als Konsenspolitiker die Regierung führt und das Volk eint. Doch die Reaktionen auf die Meldung am Samstag, Übergangspräsident Adli Mansur habe Baradei zum Premier ernannt, zeigten das Gegenteil: Viele konservative und religiöse Ägypter reagierten mit Entsetzen; immer wieder wurde die Ansicht geäußert, nun werde endgültig eine bestimmte politische Richtung per Ansage von oben verordnet.

Das Präsidialamt dementierte allerdings einige Stunden später die Nachricht; die Beratungen dauerten an. Beratungen, die vor allem hinter verschlossenen Türen und ohne Beteiligung der gesellschaftlichen und politischen Gruppierungen stattfinden, stattdessen allerdings unter ständiger Anwesenheit von Generalstabschef Abdul Fattah al-Sisi, und seinem Team. Journalisten vor dem Präsidialamt berichten, die Militärs seien dort regelrecht »eingezogen« - ein deutlicher Hinweis darauf, dass der eigentliche starke Mann in Ägypten nicht Mansur heißt.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -