Heine und der Schnupftabak

Eberhard Panitz stöberte in Tagebüchern berühmter Dichter

  • Gerd Prokot
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Schriftsteller Eberhard Panitz wurde 1995 zufällig Zeuge, wie auf einem Grünauer Schulhof der Hausmeister »auf Weisung von oben« Hunderte und aber Hunderte Bücher auf den Müll karrte - Bände, deren Makel darin bestand, dass sie in der DDR gedruckt waren. Es waren keineswegs nur Werke der als »staatsnah« denunzierten DDR-Schriftsteller, sondern auch Klassiker der Weltliteratur. Es mag das Erlebnis mit gewesen sein, das Eberhard Panitz veranlasste, in den Tagebüchern großer Autoren zu stöbern, die indessen keinesfalls vergessen oder verschmäht sind. Da ist der Titel eine Zuspitzung. Wer vermag schon einen Heine oder Tucholsky totzusagen?

Als Mutter aller Tagebücher darf zu Recht das »Sudelbuch« von Georg Christian Lichtenberg gelten, ein Sammelsurium frecher, scharfsinniger und, möchte man hinzufügen, zeitloser Sprüche, von denen einige so aktuell sind wie vor 240 Jahren. Der Satz »Ich fürchte, unsere allzu sorgfältige Erziehung liefert uns Zwergobst« könnte, nein sollte warnend in jedem Lehrerzimmer oder Kulturdezernat hängen. Oder: »Da der Mensch toll werden kann, sehe ich nicht ein, warum es ein Weltsystem nicht auch werden kann.« In der Regel waren es beiläufige Beobachtungen, die er festhielt, Einfälle, Geistesblitze, Anregungen, »Pfennigwahrheiten«.

Andere Schriftsteller - Erwin Strittmatter oder Johannes R. Becher beispielsweise, Goethe sowieso - hatten bei ihren Notizen durchaus eine literarische Weiterverarbeitung und spätere Veröffentlichung im Sinne. Strittmatter hielt für ihn Wichtiges handschriftlich in kleinen Schulheften fest; in seinem Nachlass sollen sich an die 500 solcher »Groschenhefte« befinden. Den darin gespeicherten Pfennigwahrheiten entsprangen u. a. der »Schulzenhofer Kramkalender« oder »Meine Freundin Tina Babe« - doch enthalten sie auch sein Bekenntnis zum Sozialismus, »für den ich freudig kämpfen will« und das Eingeständnis, dass er sich der Kollektiv-Scham nur entziehen könne, wenn er daran denke, »dass den ganzen Krieg über keine Kugel meinen Gewehrlauf verließ«.

Dass in Tagebüchern die Wahrheit und nichts als die Wahrheit steht, ist ein frommer Wunsch. Manches wurde aus unterschiedlichen Gründen nachredigiert - oder ganz weggelassen. Goethe hat zum Beispiel nur sehr sporadisch Tagebuch geführt. Von Georg Büchner (»Friede den Hütten! Krieg den Palästen«), der sich selbst eines rasanten Schaffenseifers rühmte, darf angenommen werden, dass es von ihm auch Tagebucheintragungen gibt, doch soll laut Panitz seine Verlobte selbige vernichtet haben (was diese lebenslang bestritt). Besser steht es um Kurt Tucholskys Nachlass. Auch er nannte - wie Lichtenberg - sein letztes hinterlassenes Tagebuch »Sudelbuch«, das erst 1993 veröffentlicht wurde. Brechts aufschlussreiches »Arbeitsjournal 1938-1955« wurde ebenfalls erst 1973, lange nach seinem Tod, publiziert.

Heinrich Heine, der offensichtlich kein Tagebuchschreiber war, leider, wünschte eine neue Gesellschaft mit »Zuckererbsen für jedermann« - und fürchtete zugleich eine Zeit der Bilderstürmerei, in der sein »Buch der Lieder« dem Kolonialwarenhändler dazu dient, Tüten zu drehen, in die alte Frauen ihren Schnupftabak schütten ... Und dennoch hätte auch dies etwas Gutes, weil die armen, guten, alten Weiber »sich vielleicht in unserer jetzigen Welt der Ungerechtigkeit eine solche Annehmlichkeit hätten versagen müssen«.

Eberhard Panitz: Tagebuch der totgesagten Dichter. Verlag am Park. 205 S., br., 14,99 €.

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