Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
Die Kaste der Priester entstand im Altertum: Aus der Wechselwirkung zwischen Legitimation von Macht und Kontaktaufnahme zu den Göttern. Sie sollte die Macht und die Herrschaft ihres Herren ins Transzendente emporheben und legitimieren. Heute treten Politiker auf wie Priester. Sie verlegen die marktkonforme Demokratie und deren Abläufe ins Übersinnliche. Dabei sind die theoretischen Werte der Demokratie, Schlagworte wie Transparenz und Teilhabe, Mitsprache und Garantie von unveräußerlichen Rechten, die transzendente Basis. Auf ihrer Grundlage vertuscht man ihren Abgesang mit Parolen wie »rückhaltlose Aufklärung« oder »zweifelsfreie Klärung«.
Gleich solchen Priestern schieben Politiker bei jeder Gelegenheit »Aufklärung« nach. Wie Priester ihr »Gelobt sei Gott!« oder das »Amen!« anbrachten, so beenden Politiker heute jedes Sujet mit der Bestätigung, dass nun Aufklärung nötig werde. Eine Floskel, die man wie ein zuvorkommendes »Gesundheit!« nach dem Niesen in den Raum wirft, ohne wirklich in diesem Augenblick dem Niesenden Gesundheit zu wünschen. Es ist ein Ritual, das Transparenz vorgaukeln soll, wo es schon lange keine Ambitionen mehr gibt, die Dinge als res publica zu bestellen.
Wir leben in »aufgeklärten Zeiten«. Oder sagen wir lieber: Wir leben in Zeiten, in denen viel von Aufklärung gesprochen wird, während eigentlich Verschleierung stattfindet. Vor mehreren Jahren bezeichnete ich Christian Wulff als den Prototypen des modernen Aufklärers. In jedem dritten Interview forderte der Mann »rückhaltlose, umfassende, lückenlose [oder] restlose Aufklärung«. So geübt wie er damals, ist die heutige politische Priesterschaft schon lange.
»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«, wusste Kant. Aufklärung in Zeiten von NSA-Skandal, Sozialabbau und Neoliberalismus, kurz Entdemokratisierung der gesellschaftlichen Prozesse, könnte man so formulieren: »Aufklärung ist der Ausgang der Demokratie, in eine von oben kontrollierte Unmündigkeit.«
Die »rückhaltlose Aufklärung« lullt ein, verwischt die Tatsachen, sediert die Empörung. »Rückhaltlose Aufklärer« delegieren an Gremien und Ausschüsse, ersticken das Aufzuklärende solange unter Bergen von Akten und unmotiviert gestellten Fragen, bis das Interesse schwindet. Die »rückhaltlose Aufklärung« ist die rhetorische Stilblüte des Aussitzens von Skandalen und Affären. Diese »Aufklärung« soll nichts klären, sondern verklären. Sie kommt nach jeder Offenlegung eines Skandals wie aus der Pistole geschossen, um dem Skandal die Eigendynamik zu nehmen. Verbindet man mit der klassischen Aufklärung die Beschleunigung von Wissensinhalten, so entschleunigt diese moderne »Aufklärung« jegliche transzendente Vitalität und hemmt die Erkenntnismöglichkeiten nachhaltig. Sie gibt vor, sich zu kümmern und die Dinge zu analysieren, ist aber nur ein hektischer Aktionismus unter Ausklammerung des Erkenntnisgewinns.
Diese politische Priesterschaft der Postdemokratie psalmodiert sich durch die Öffentlichkeit. Ob Kanzlerin, Bundespräsident oder Hinterbänkler: Alle wissen sie, dass Aufklärung ein tröstliches Wort für die postdemokratische Gemeinde ist. Sie sind wie Seelsorger darum bemüht, über die Ungerechtigkeit auf Erden hinwegzutrösten, indem sie von einer transzendenten Gerechtigkeit predigen, die es aber im Nach-Rechtsstaat und Nach-Sozialstaat so nicht mehr gibt. So untermauern sie das Narrativ von der intakten Gesellschaft, vertuschen sie Klassismus, elitären Dünkel, Selbstbereicherung der oberen Schicht und die Verdrängung der gesellschaftlichen Partizipation. Das Primat der Politik beschränkt sich lediglich darauf, die von der Geldmacht gebotenen Vorgänge in der modernen Gesellschaft quasi-spirituell zu verbrämen. Politiker der Postdemokratie haben Geistliche »in der negativen Tradition der Aufklärung« zu sein.
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