Notunterkünfte sind voll

Bezirke offenbar mit Unterbringung der steigenden Anzahl Wohnungsloser überfordert

  • Malene Gürgen
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Zahl der Notübernachtungsplätze für Wohnungslose in Berlin reicht auch im Sommer nicht mehr aus. Das geht aus einer Antwort des Senats auf eine Kleine Anfrage des Piraten-Abgeordneten Alexander Spies hervor. Demnach waren zum Stichtag am 1. Juni dieses Jahres in den nichtvertragsgebundenen Unterkünften, an die die Bezirke vermitteln, laut Senatsverwaltung für Soziales gerade mal 16 Plätze frei: Von 5132 Plätzen waren 5116 belegt.

Es ist fast schon eine unschöne Tradition, dass die Obdachlosenunterkünfte im Winter Überfüllung melden. Dass dieses Problem aber nicht nur die besonders kalten Nächte des Jahres betrifft, sondern mittlerweile dauerhaft besteht, zeigen jetzt aktuelle Zahlen: Die Obdachlosenunterkünfte in Berlin haben zu wenig Plätze für die stetig steigende Anzahl der Wohnungslosen in der Stadt – das geht aus der Antwort der Senatsverwaltung für Soziales auf eine Kleine Anfrage des Piratenabgeordneten Alexander Spies hervor, die »nd« vorliegt.
Zum Stichtag am 1. Juni dieses Jahres gab es in den nichtvertragsgebundenen Unterkünften, an die die Bezirke vermitteln, laut Auskunft der Senatsverwaltung gerade mal 16 freie Plätze: Von 5132 Plätzen waren 5116 belegt. Am 1. Juni 2008 waren hingegen noch 396 Plätze frei, obwohl insgesamt weniger als heute, nämlich nur 4000 zur Verfügung standen. Zwar sind diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen, weil nicht immer alle freien Plätze tatsächlich verfügbar sind. Aber sie geben einen deutlichen Hinweis darauf, dass es in Berlins Unterkünften immer enger wird.

Der Senat hält die aktuelle Zahl an Plätzen offenbar trotzdem für ausreichend: »Die Sozialverwaltung geht davon aus, dass die Bezirke ihrer Unterbringungspflicht nachgehen«, heißt es in der Antwort. Karsten Krull vom »Arbeitskreis Wohnungsnot«, in dem rund 60 Wohnungslosenunterkünfte vertreten sind, sieht das anders: »Der Plätze in der Datenbank, auf die die Bezirke zurückgreifen, sind oft schon am Vormittag restlos belegt«, sagt Krull. Obwohl die Bezirke eigentlich verpflichtet sind, eine Unterbringungsmöglichkeit zu finden und dafür auch auf Pensionen, Hostels und Hotels zurückgreifen können, würden immer wieder Leute abgewiesen werden. »Da wird gesetzeswidrig gehandelt und ausgenutzt, dass viele Betroffene nicht wissen, dass sie ein Recht auf eine Unterbringung haben«, so Krull.

Diese Darstellung bestätigt Jürgen Mark von der Notunterkunft Franklinstraße. »Seit gut einem Jahr geht das so, dass die Bezirke nicht mehr in der Lage sind, die Menschen unterzubringen«, sagt Mark. Die Sachbearbeiter seien oft zu »fantasielos«, sagt er: »Da wird einmal in die Datenbank geschaut und das war›s – mal das Telefon nehmen und ein paar Pensionen abtelefonieren, ist nicht.« Allerdings gebe es hier auch Unterschiede zwischen den Bezirken: In Spandau und Treptow-Köpenick etwa funktioniere seiner Einschätzung nach die Vermittlung weit besser als etwa in Mitte, Lichtenberg und Pankow. Besonders absurd: Ihm sei bereits von Mitarbeitern eines Bezirksamts gesteckt worden, er solle doch seine Klienten dazu bringen, die Bezirke per einstweiliger Verfügung zu einer Platzvermittlung zu zwingen. »Mir wurde erzählt, dass man wegen einer entsprechenden Dienstanweisung leider nicht an teurere Pensionen vermitteln dürfe – mit einer einstweiligen Verfügung sei das aber kein Problem«, sagt Mark. Er weiß zudem von drei Fällen in den letzten Monaten, wo das geklappt hat – auf einmal waren die Plätze da.

»Es kann nicht sein, dass die Unterkünfte aus allen Nähten platzen und nichts dagegen getan wird«, sagt Alexander Spies. Aus seiner Sicht liegt die Lösung vor allem in präventiven Maßnahmen, die Menschen davor bewahren, überhaupt erst wohnungslos zu werden. »Die Wohnungslosenhilfe hat längst vorgerechnet, dass solche Maßnahmen viel billiger sind als die Unterbringung«, sagt Spies. Diese sei gerade für private Träger zu einer »Goldgrube« geworden. Ein Platz im Einzelzimmer kostet laut Senat zwischen 20 und 30 Euro, die Kosten übernimmt das Jobcenter.

Neben den offenbar sehr knappen Plätzen hat Berlin ein weiteres Problem: Eine offizielle Wohnungslosenstatistik gibt es nicht. Die Grünenfraktion hat einen Antrag auf Einführung eingebracht, der momentan noch behandelt wird. »Es kann nicht sein, dass immer wieder spontan auf die Situation reagiert werden muss«, sagt der sozialpolitische Sprecher der Grünen, Martin Beck. Man brauche endlich eine valide Statistik, um das Angebot optimieren zu können. Diese Basis, so Beck, brauche es auch für die »Leitlinien zur Wohnungslosenpolitik« , deren Ausarbeitung im Koalitionsvertrag festgelegt ist und eigentlich für dieses Jahr angekündigt war, kürzlich aber vom Senat auf das Jahr 2015 verschoben wurde. Mit so einer Statistik ließe sich dann vielleicht auch sagen, wie viele Plätze denn nun tatsächlich in Berlin fehlen – eine Angabe des Rats der Bürgermeister, der von 1000 fehlenden Plätzen ausgeht, will der Senat nicht bestätigen.

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