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Der arme Sieger
Jahrbuch für Kommunismusforschung
Hauptthema des neuen Jahrbuchs für Kommunismusforschung ist der 60. Jahrestag des sowjetischen Sieges über Deutschland, der in dem nun sich verabschiedenden Jahr anstand. Der Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Instituts in Moskau, Bernd Bonwetsch, befasst sich mit den Folgen des Krieges und Sieges für die UdSSR und Osteuropa - facettenreich und grundsätzlich, gestützt auf neuestem Forschungs- und Wissensstand. Als Kampf auf dem eigenen Boden und um die eigene Existenz aufgenommen, wird der Zweite Weltkrieg in Russland nach wie vor als »Großer Vaterländischer Krieg« wahrgenommen.
Etwas dubios scheint mir die Behauptung Bonwetschs, dass noch umstritten sei, »auf welchen Krieg sich die Sowjetunion (bis zum Juni 1941) derart vorbereitete«. Es sei »zumindest keineswegs sicher, dass Stalin nur als Reaktion auf einen deutschen Angriff in den Krieg eingreifen wollte«, meint er. Eindeutig belegt er hingegen (und sich selbst widersprechend), dass der deutsche Überfall völlig überraschend kam. Es sei »ahistorisch, der Stalin-Führung vorzuwerfen, dass die UdSSR und ihre Bürger einen gewaltigen Preis für den Sieg bezahlt hatten«, betont Bonwetsch. Zweifellos, dem neuen Weltmachtstatus nach dem Sieg 1945 war die Sowjetunion »wirtschaftlich nicht gewachsen«; sie blieb ein »armer Sieger«. Bonwetsch vermerkt des Weiteren, dass der Kalte Krieg »nicht allein der Sowjetunion zuzuschreiben war«. Es habe eine Alternative gegeben, fügt er hinzu, ohne diese zu benennen. So bleiben Fragen: Hätte die Sowjetführung nach den gemachten Erfahrungen mit den Westmächten etwa auf die Errichtung eines westlich ihrer Grenzen befindlichen »Cordon sanitaire« im Interesse ihrer Sicherheit verzichten sollen?
Anerkannt werden von Bonwetsch die »unbezweifelbaren Leistungen« der UdSSR nicht nur für das eigene Land, sondern für ganz Europa. Aber dass die Sowjetbürger den Krieg als »Atempause« nach dem »Großen Terror« empfunden haben sollen, wie hier zu lesen, scheint mir mehr als fragwürdig, sogar zynisch angesichts des Verlustes von 27 Millionen Menschen im Krieg. Insofern ist auch der Vorwurf kaum nachvollziehbar, dass das heutige Russland wenig Verständnis gezeigt habe für »die zwiespältigen Gefühle in den baltischen Staaten und manchen osteuropäischen Staaten angesichts der Feiern zur Befreiung Europas vom Faschismus«.
Andreas Langenohl bestreitet in seiner Erinnerungsreflexion, »dass Russland auf einer bestimmten Deutung des Sieges bestehen darf und muss«. Die Unantastbarkeit der Erinnerung wird in Frage gestellt. Angesichts der jüngst zaghaft begonnenen, erfreulichen Internationalisierung der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg sollten aber gerade die großen Opfer und Leistungen der Russen nicht in Frage gestellt werden, wie das seitens der Regierungen des Baltikums geschieht. Der Beitrag der Sowjetvölker an Befreiung und Zerschlagung des Fasschismus muss unumstrittener Kernbestand der kollektiven Erinnerung der europäischen Staaten sein und bleiben.
Was bietet das neue Jahrbuch noch? Über die zehnjährige sowjetische Besatzungspolitik in Österreich berichten zwei informative, auf neu erschlossenen russischen Archivquellen basierende Arbeiten. Und in der Rubrik »Biographische Skizze« berichtet Andre Kiss über die 2002 in Budapest erschienene vierbändige Erinnerung des ungarischen Partei- und Regierungschefs Matyas Rakosi (1945-1956). Kiss sieht in dessen Autobiografie eine außergewöhnliche historische Quelle, die tiefen Einblick in das Wirken des ehemaligen Komintern-Sekretärs (1921-1925) und Mitinitiators der stalinistischen Transformation Ungarns gibt. Rakosi war offenbar in der ungarischen Bevölkerung nicht nur verhasst und auch kein banaler Diktator, wie bisher landläufig dargestellt. Ein großer Teil der Bevölkerung brachte ihm Respekt entgegen. Ebenso erinnere man sich heute auch an Janos Kadar mit gewisser Sympathie als einen Politiker, der sich um das Volk gekümmert habe. Dennoch, so Kiss, bestünde keine Notwendigkeit, die Rakosi-Ära in Ungarn einer völligen Neubewertung zu unterziehen. Einige Korrekturen seien jedoch nötig. Rakosi war kein psychopathischer Fall, »seine Psychologie ging restlos auf im von der Partei verkörperten richtigen Bewusstsein, in der Selbstidentifizierung mit dem von der Politik der Partei repräsentierten welthistorischen Optimismus auf«.
Zu einem weiteren Schwerpunkt des Jahrbuchs, den »Große Terror« 1937/38 unter Stalin, leistet Wladislaw Hedeler einen bemerkenswerten Beitrag: Er rekonstruiert das Schicksal deutscher Emigranten in der Sowjetunion. Im »Länderschwerpunkt Südosteuropa« schließlich informiert der Berliner Schriftsteller und kenntnisreiche Rumänien-Spezialist William Totok über seine Recherchen in Securitate-Archiven, über die »vergessenen« stalinistischen Prozesse gegen die »Spione des Vatikans« in Rumänien. Fazit: Dieses Jahrbuch bietet eine nicht sehr erquickliche, aber wichtige Lektüre.
Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2005. Hg. von Hermann Weber. Aufbau-Verlag...
Etwas dubios scheint mir die Behauptung Bonwetschs, dass noch umstritten sei, »auf welchen Krieg sich die Sowjetunion (bis zum Juni 1941) derart vorbereitete«. Es sei »zumindest keineswegs sicher, dass Stalin nur als Reaktion auf einen deutschen Angriff in den Krieg eingreifen wollte«, meint er. Eindeutig belegt er hingegen (und sich selbst widersprechend), dass der deutsche Überfall völlig überraschend kam. Es sei »ahistorisch, der Stalin-Führung vorzuwerfen, dass die UdSSR und ihre Bürger einen gewaltigen Preis für den Sieg bezahlt hatten«, betont Bonwetsch. Zweifellos, dem neuen Weltmachtstatus nach dem Sieg 1945 war die Sowjetunion »wirtschaftlich nicht gewachsen«; sie blieb ein »armer Sieger«. Bonwetsch vermerkt des Weiteren, dass der Kalte Krieg »nicht allein der Sowjetunion zuzuschreiben war«. Es habe eine Alternative gegeben, fügt er hinzu, ohne diese zu benennen. So bleiben Fragen: Hätte die Sowjetführung nach den gemachten Erfahrungen mit den Westmächten etwa auf die Errichtung eines westlich ihrer Grenzen befindlichen »Cordon sanitaire« im Interesse ihrer Sicherheit verzichten sollen?
Anerkannt werden von Bonwetsch die »unbezweifelbaren Leistungen« der UdSSR nicht nur für das eigene Land, sondern für ganz Europa. Aber dass die Sowjetbürger den Krieg als »Atempause« nach dem »Großen Terror« empfunden haben sollen, wie hier zu lesen, scheint mir mehr als fragwürdig, sogar zynisch angesichts des Verlustes von 27 Millionen Menschen im Krieg. Insofern ist auch der Vorwurf kaum nachvollziehbar, dass das heutige Russland wenig Verständnis gezeigt habe für »die zwiespältigen Gefühle in den baltischen Staaten und manchen osteuropäischen Staaten angesichts der Feiern zur Befreiung Europas vom Faschismus«.
Andreas Langenohl bestreitet in seiner Erinnerungsreflexion, »dass Russland auf einer bestimmten Deutung des Sieges bestehen darf und muss«. Die Unantastbarkeit der Erinnerung wird in Frage gestellt. Angesichts der jüngst zaghaft begonnenen, erfreulichen Internationalisierung der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg sollten aber gerade die großen Opfer und Leistungen der Russen nicht in Frage gestellt werden, wie das seitens der Regierungen des Baltikums geschieht. Der Beitrag der Sowjetvölker an Befreiung und Zerschlagung des Fasschismus muss unumstrittener Kernbestand der kollektiven Erinnerung der europäischen Staaten sein und bleiben.
Was bietet das neue Jahrbuch noch? Über die zehnjährige sowjetische Besatzungspolitik in Österreich berichten zwei informative, auf neu erschlossenen russischen Archivquellen basierende Arbeiten. Und in der Rubrik »Biographische Skizze« berichtet Andre Kiss über die 2002 in Budapest erschienene vierbändige Erinnerung des ungarischen Partei- und Regierungschefs Matyas Rakosi (1945-1956). Kiss sieht in dessen Autobiografie eine außergewöhnliche historische Quelle, die tiefen Einblick in das Wirken des ehemaligen Komintern-Sekretärs (1921-1925) und Mitinitiators der stalinistischen Transformation Ungarns gibt. Rakosi war offenbar in der ungarischen Bevölkerung nicht nur verhasst und auch kein banaler Diktator, wie bisher landläufig dargestellt. Ein großer Teil der Bevölkerung brachte ihm Respekt entgegen. Ebenso erinnere man sich heute auch an Janos Kadar mit gewisser Sympathie als einen Politiker, der sich um das Volk gekümmert habe. Dennoch, so Kiss, bestünde keine Notwendigkeit, die Rakosi-Ära in Ungarn einer völligen Neubewertung zu unterziehen. Einige Korrekturen seien jedoch nötig. Rakosi war kein psychopathischer Fall, »seine Psychologie ging restlos auf im von der Partei verkörperten richtigen Bewusstsein, in der Selbstidentifizierung mit dem von der Politik der Partei repräsentierten welthistorischen Optimismus auf«.
Zu einem weiteren Schwerpunkt des Jahrbuchs, den »Große Terror« 1937/38 unter Stalin, leistet Wladislaw Hedeler einen bemerkenswerten Beitrag: Er rekonstruiert das Schicksal deutscher Emigranten in der Sowjetunion. Im »Länderschwerpunkt Südosteuropa« schließlich informiert der Berliner Schriftsteller und kenntnisreiche Rumänien-Spezialist William Totok über seine Recherchen in Securitate-Archiven, über die »vergessenen« stalinistischen Prozesse gegen die »Spione des Vatikans« in Rumänien. Fazit: Dieses Jahrbuch bietet eine nicht sehr erquickliche, aber wichtige Lektüre.
Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2005. Hg. von Hermann Weber. Aufbau-Verlag...
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