Hauptstadt des Prekariats
Anlässlich des heutigen Sozialgipfels stellt »nd« die sozialpolitischen Problemfelder vor
Berlin ist arm. Das gilt nicht nur für den Landeshaushalt, sondern auch für viele Bewohner. Von einem »armutspolitischen Erdrutsch« in der Hauptstadt spricht der Paritätische Wohlfahrtsverband: In den letzten fünf Jahren, so eine Studie des Verbands, stieg der Anteil der Haushalte, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens beträgt, um 24,1 Prozent. Berlin hat damit bundesweit den höchsten Anteil an diesen sogenannten »armutsgefährdeten Haushalten«.
Auf dieses Thema will der jährlich stattfindende Berliner Sozialgipfel aufmerksam machen, der am heutigen Mittwoch zum vierten Mal tagt. Hinter dem Gipfel steht ein Bündnis aus Gewerkschaften, Vereinen und Wohlfahrtsverbänden, unter anderem sind die Arbeiterwohlfahrt (AWO), der DGB, der Humanistische Verband und, dieses Jahr zum ersten Mal, der Berliner Mieterverein dabei.
»Wir wollen mit der Politik im Gespräch bleiben und die sozialen Risiken in unserer Stadt thematisieren«, sagt Roland Tremper von der Gewerkschaft ver.di. Auf dem Gipfel wird es deshalb Diskussionsrunden mit Politikern geben, in denen die drängendsten sozialen Probleme auf den Tisch kommen sollen. Die SPD-Staatssekretärin Barbara Loth, die Sozialpolitikerin Elke Breitenbach (LINKE) und die Grüne Bundestagsabgeordnete Lisa Paus werden mitdebattieren.
»Wir wissen natürlich, dass ein einmal im Jahr stattfindendes Ereignis alleine nicht viel bewirken kann«, räumt Ursula Engelen-Kefer ein. Die ehemalige DGB-Vorsitzende ist heute im Sozialverband Deutschland aktiv. Deshalb habe man in diesem Frühjahr eine Kommission gegründet, die auch zwischen den Gipfeln dafür sorgen soll, dass soziale Themen auf die Agenda rücken. »Wir lassen uns nicht kleinreden«, sagt die zierliche 70-Jährige kämpferisch. Der Reformstau, den es in Berlin gerade in der Sozialpolitik seit Jahren gebe, müsse endlich angegangen werden.
Auch in den Bundestagswahlkampf will sich das Bündnis einmischen. »Viele Probleme können nur auf Berliner Ebene nicht gelöst werden«, betont Engelen-Kefer. »Viele Lebensbereiche, die früher noch auf den Schutz des Sozialstaats bauen konnten, sind mittlerweile von den Kürzungs- und Privatisierungswellen erfasst worden.« Doch in welchen sozialen Bereichen sind die Probleme in Berlin am drängendsten? »nd« beleuchtet einige Schwerpunkte:
Altern
Bei vielen Berlinern reicht die Rente längst nicht zum Leben. »Etwa zehn Prozent sind zusätzlich auf Grundsicherung angewiesen«, sagt Ursula Engelen-Kefer vom Sozialverband Deutschland. Außerdem müssten rund 20 000 Rentner in einem Minijob arbeiten, um ihre Rente aufzubessern. »Berlin ist damit im Bundesvergleich Problemgebiet Nr. 1«, so Engelen-Kefer. Seit 2004 habe es bei den gesetzlichen Altersrenten einen Kaufkraftverlust von knapp zwölf Prozent gegeben, sagt Engelen-Kefer. Sie fordert deshalb eine Abschaffung der »willkürlichen Kürzungsfaktoren wie Riester- und Nachhaltigkeitsfaktoren« und keine weitere Absenkung des Rentenniveaus. Außerdem müsse der Zugang zu den Erwerbsminderungsrenten verbessert und die Rente mit 67 ausgesetzt werden.
Die aus diesen Maßnahmen entstehenden Belastungen, sagt Engelen-Kefer, könne man durch die abzuschaffende »Subventionierung der privaten Altersvorsorge für Besserverdienende« ausgleichen.
Arbeit
Die Einhaltung der Mindestlöhne wird nicht kontrolliert. »Berlin ist und bleibt die Stadt der prekären Arbeit«, sagt die Vorsitzende des DGB Berlin-Brandenburg, Doro Zinke. Daran ändere auch die im Mai 2012 beschlossene Änderung des Vergabegesetzes nichts, die den Mindestlohn bei der Vergabe öffentlicher Aufträge von 7,50 Euro auf 8,50 Euro erhöhte. »Das war natürlich ein wichtiger Schritt«, sagt Zinke. »Solange es aber keinerlei Kontrollen gibt, bringt das herzlich wenig.« Denn Zinke vermutet, dass der Mindestlohn in vielen Bereichen weiterhin umgangen wird. Als Beispiel nennt sie die Herstellung und Ausgabe von Schulessen: »Wir haben viele Hinweise darauf, dass die dafür zuständigen Mitarbeiter unterbezahlt sind.« Der DGB wolle nun auf eigene Faust Befragungen an den Schulen durchführen, um dazu Erkenntnisse zu gewinnen.
Probleme sieht Zinke auch im Hotel- und Gaststättengewerbe. »Hier gibt es Betriebe mit einer Ausbildungsquote von 20 Prozent - das bedeutet, dass die Azubis praktisch den Laden schmeißen müssen«, sagt sie. In dieser Branche würden außerdem Werkverträge zunehmend zum Problem. So sei es eine verbreitete Praxis, dass Raumpfleger pauschal für eine bestimmte Anzahl geputzter Zimmer bezahlt werden. »Die Aufträge sind dann so bemessen, dass das für einen vernünftigen Stundenlohn nicht machbar ist«, so Zinke.
Pflege
Fachkräftemangel in der ambulanten Versorgung. Mehr als 100 000 Berliner sind pflegebedürftig, Prognosen zufolge könnten es im Jahr 2030 schon 170 00 sein. Die meisten von ihnen, nämlich 73 Prozent, werden zu Hause gepflegt, dieser Anteil ist in Berlin höher als im Bundesdurchschnitt. Gleichzeitig sinkt aber die Ausbildungsquote in der Altenpflege, die momentan nur noch bei durchschnittlich 4,5 Prozent liegt. Fast die Hälfte der Beschäftigten in der Altenpflege arbeiten Teilzeit, rund 75 Prozent davon sind Frauen. Ingeborg Simon, die stellvertretende Landesvorsitzende der Volkssolidarität, spricht angesichts dieser Zahlen von einer »Katastrophe« und einem »enormen Reformstau«. Immer noch müssten die meisten Angehörigen selbst für die Pflege sorgen, »informelle Netzwerke sind der größte Sozialdienst Berlins«, so Simon. Sie fordert eine Ausbildungsoffensive für den Pflegebereich, die Kosten für die Ausbildung sollen dabei auf alle Einrichtungen umgelegt werden. »Es darf kein Vorteil sein, nicht auszubilden«, sagt sie.
Wohnen
Die Berliner Privathaushalte geben das meiste Geld für Wohnen aus. Der Anteil der Bruttokaltmieten am Haushaltseinkommen betrug bei der letzten Erhebung der Mikrozensusdaten im Jahr 2010 exakt 28,6 Prozent, gegenüber der Erhebung im Jahr 2002 ist das ein Anstieg um fast 33 Prozent. »Im unteren Einkommensdrittel fressen die Wohnkosten mittlerweile die Hälfte des Haushaltseinkommens auf«, sagt Reiner Wild vom Berliner Mieterverein.
Als besonders besorgniserregend bewertet Wild, dass der Anstieg der Wohnkostenbelastung besonders in den bisher als günstig geltenden Randbezirken eine Rolle spielt: Spitzenreiter ist Marzahn-Hellersdorf, wo die Belastung in den vergangenen acht Jahren um knapp 48 Prozent stieg, dahinter kommen Treptow-Köpenick mit knapp 44 Prozent und Reinickendorf mit gut 35 Prozent. »Am Wohnungsmarkt ist man nicht mehr sicher. Deshalb trauen sich immer weniger Leute, umzuziehen - selbst wenn ihre Wohnungen nicht mehr ihren Bedürfnissen entsprechen«, so Wild. Der Mieterverein fordert eine Kappungsgrenze für Mieterhöhungen und Neuvermietungen sowie Neubau, der preisgünstigen Wohnraum schafft. »Hier sind besonders die Bezirke gefordert, aktiv mit Investoren zu verhandeln und so für preiswerten Wohnraum zu sorgen.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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