Zwangsrente für Arbeitslose
Jobcenter schicken Hartz-IV-Bezieher vorzeitig in den Ruhestand
Der Befund der Bundesagentur für Arbeit (BA) ist eindeutig: »Arbeitslosigkeit zu beenden, ist für Ältere schwieriger als für Jüngere«, heißt es in einem 2012 veröffentlichten Bericht der Nürnberger Behörde. Zwar sei die allgemeine Beschäftigungslage für Menschen über 55 besser geworden, konstatiert die BA, trotzdem seien die Chancen auf dem Arbeitsmarkt für Ältere gering. »Entsprechend ist der Anteil der Langzeitarbeitslosen unter Älteren höher als im Durchschnitt aller Altersklassen«, so das Fazit. Im Osten der Republik ist ihr Anteil besonders hoch. In Wittenberg und dem Salzlandkreis sind drei Viertel aller älteren Arbeitslosen seit mindestens vier Jahren im Hartz-IV-Bezug. Das macht sich in der Statistik nicht gut. Deshalb gehen immer mehr Jobcenter dazu über, die Betroffenen frühzeitig in Rente zu schicken – auch gegen deren Willen.
Zumindest formal ist das Vorgehen der Ämter korrekt. Das Sozialgesetzbuch II sieht die Möglichkeit der Frühverrentung ausdrücklich vor. Wer das 63. Lebensjahr vollendet hat, kann aufs Altenteil abgeschoben werden. Denn Hartz-IV-Bezieher haben laut Gesetz die Verpflichtung, andere Sozialleistungen vorrangig zu beantragen. Die Sache hat aber einen Haken: Viele Betroffene müssen dabei hohe Abschläge in Kauf nehmen. Jeder Monat, den man früher in Rente geht, verringert die Altersbezüge um 0,3 Prozent. Wer bis 65 hätte arbeiten müssen, büßt so 7,2 Prozent ein. Noch schlimmer wird es jene treffen, für die die Rente ab 67 gilt: »Wer zum Beispiel nach 35 Versicherungsjahren mit 63 statt mit 67 in Rente gehen will, muss Abzüge von 14,4 Prozent hinnehmen«, heißt es dazu bei der Deutschen Rentenversicherung.
Gunnar Winkler, Präsident der Volkssolidarität, hält das Vorgehen der Jobcenter für einen Skandal. Winkler forderte am Dienstag, dass die entsprechenden Regelungen im Sozialgesetzbuch dringend geändert werden müssen. »Ansonsten bleibt Hartz IV Altersarmut per Gesetz«, so Winkler.
Nicht nur die Volkssolidarität ist für ein Ende der altersdiskriminierenden Frühverrentung. Auch Münchens Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) »bat« die Bundesarbeitsministerin, die entsprechenden Regelungen zu ändern, wie die »Süddeutsche Zeitung« im August 2012 berichtete. Hinter Udes Vorstoß steckte auch finanzielles Kalkül. Denn die Grundsicherung im Alter für Menschen ohne auskömmliche Rentenansprüche gibt es erst ab 65. Das heißt, die Kommunen müssen den früher Verrenteten bis dahin Hilfe zum Lebensunterhalt bezahlen.
Wie viele Menschen alljährlich in den erzwungenen Ruhestand geschickt werden, ist nicht bekannt. Die Thüringer Landtagsabgeordnete Karola Stange (LINKE) wollte jüngst von der Landesregierung wissen, wie oft Hartz-IV-Bezieher im Freistaat zwangspensioniert werden. Doch Fehlanzeige: In Erfurt kennt man die Zahlen angeblich nicht. »Die gehäuften Meldungen von Bürgerinnen und Bürgern legen nahe, dass hier eine bewusste Verschärfung der Praxis gefahren wird, um die Arbeitslosenzahlen vor der Bundestagswahl noch etwas aufzupolieren«, vermutet Stange.
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