Mursi spaltet die Nation am Nil
Anklage gegen Ägyptens gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi erhoben
Im Kairoer Stadtteil Oktober-Stadt hat sich die Revolution hinter Windschutzscheiben zurückgezogen. Kleine Aufkleber des vor zwei Monaten gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi kleben auf Armaturenbrettern. Auf Balkonen wehen Wimpel mit vier schwarzen Fingern - dem Symbol der Protestbewegung gegen die Militärs. In roten Graffiti-Buchstaben steht »Revolution oder Tod« an einer Hauswand.
Zumindest politisch sieht es für die Anhänger Mursis nach Letzterem aus. Am Sonntagabend entschied die Kairoer Staatsanwaltschaft, Mursi vor einem Strafgericht anzuklagen. Der Vorwurf: Aufstachelung zur Gewalt. Mit ihm sind weitere 14 führende Funktionäre angeklagt. Sie sollen an Angriffen auf eine Demonstration gegen die Muslimbruderschaft im Dezember beteiligt gewesen sein.
»Sie haben Tausende von uns niedergeschossen, und wir sollen die Terroristen sein?«, fragt Abu Khalid, der Besitzer eines kleinen Wasserpfeifencafés. Er meint die gewaltsame Niederschlagung von Demonstrationen für Mursi, die nach Angaben des ägyptischen Gesundheitsministeriums in den letzten beiden Wochen über 1000 Menschen das Leben kosteten. Die Muslimbrüder sprechen gar von 6000 Toten. Die Armee, nicht die Muslimbrüder, zerstörten »alles, wofür wir seit zwei Jahren kämpfen«.
Ägyptische Medien berichten fast rund um die Uhr über das Thema, das Ägypten spaltet wie kein anderes: Muslimbrüder oder Militärs. »Ägypten gegen Terrorismus« prangt während der Hauptnachrichten des Fernsehsenders »Masrihah« in der Ecke des Bildschirms. Mit Terroristen sind nicht die Militärs gemeint, sondern die Demonstranten für Mursi, die zuletzt am Freitag hunderttausendfach auf die Straßen gingen. Ein Sprecher des Justizministeriums erklärt, warum durch die »Verhaftung der Islamisten« Ägypten zurück auf dem Weg zu »Stabilität und Sicherheit« sei. Kritik am Vorgehen der Armee findet sich medial dagegen kaum: Schon kurz nach Mursis Sturz am 3. Juli wurden sämtliche Sender der Muslimbrüder vom Netz genommen. Lediglich der katarische Sender »Al-Dschasira« und sein ägyptischer Ableger blieben übrig. Doch »sogar die unterbrechen sie ständig mit Störsignalen«, sagt Abu Khalid.
Eineinhalb Autostunden von Oktober-City entfernt unterstützt Abu Dhahab die Inhaftierung Mursis: »Er ist ein Lügner«, schimpft der Touristenführer. »Er hat uns Wohlstand versprochen, ist das Wohlstand?« fragt er und zeigt auf drei abgemagerte Pferde. Im Durchschnitt drei Touristengruppen habe er früher täglich um die Pyramiden geführt, umgerechnet 30 Euro an einem Tag verdienen können. »Heute kann ich nicht einmal mehr meine Pferde füttern«, sagt er. Der Prozess gegen den Expräsidenten? »Was interessiert mich Mursi!«
Doch auch für die Muslimbrüder ist der Prozess Nebensache. Tausende Muslimbrüder verschwanden bereits hinter Gittern. In einer Stellungnahme ihrer Freiheits- und Gerechtigkeitspartei verurteilten die Muslimbrüder am Sonntag »Militärdiktatur und Polizeistaat, der unschuldige Menschen tötet, ehrbare Bürger verhaftet und Maulkörbe verhängt«. Eine Erklärung zu Mursi findet sich nicht.
Damit treffen sie die Stimmung der meisten Gegner der Militärdiktatur: »Es geht um unsere Revolution, nicht um einzelne Politiker«, sagt Café-Besitzer Abu Khalid. Trotz Ausgangssperre will er am Abend wieder auf die Straße gehen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.